Bevölkerungsexperten fordern, Qualifikationen Asylsuchender besser zu nutzen – zum Vorteil Deutschlands

Berlin. Deutschland und andere europäische Länder erleben derzeit einen enormen Flüchtlingsandrang. Allein in der Bundesrepublik könnte die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr auf 200.000 steigen – ein Plus von 70.000 gegenüber dem Vorjahr. Doch dies ist erst der Anfang. Denn vor allem aus Afrika und dem Nahen Osten werden die Wanderungsströme in den nächsten Jahren noch sehr viel größer werden, prophezeien Forscher des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung in der Studie „Krise an Europas Südgrenze“. Die Europäische Union brauche dringend eine Strategie, um der Herausforderung Herr zu werden. Bei einer klugen Einwanderungspolitik könnten die nachwuchsarmen Europäer sogar einen beachtlichen Vorteil aus der zunehmenden Migration aus Afrika und dem Nahen Osten ziehen, meint Institutschef Reiner Klingholz.

Weil ihre Heimatländer gezeichnet sind von Bürgerkriegen, politischen Umbrüchen, Terror und großer Armut machen sich immer mehr Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten auf den Weg nach Europa. Die meisten kommen derzeit aus den Krisenstaaten wie Syrien, Irak, Eritrea und Somalia. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge nutzt nicht die geregelten Wege der Zuwanderung, sondern übertritt illegal die Grenze, um dann Asyl zu beantragen.

Neben den kriegerischen Auseinandersetzungen nennt die Studie weitere Gründe, warum der Wanderungsdruck gen Norden in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird. So wächst die afrikanische Bevölkerung rasant. Gleichzeitig ist nirgendwo auf der Welt die Jugendarbeitslosigkeit höher als in dieser Region. Und wo die Jugend keine Chance bekomme, steige die Gefahr von gewalttägigen Konflikten, warnen die Demografieexperten. Und auch das enorme Wohlstandsgefälle zwischen Europa und dem Nachbarkontinent führt zu einer Sogwirkung: So leben 60 Prozent der Afrikaner von weniger als zwei Dollar am Tag. Unter den Asylbewerbern sind somit auch viele Wirtschaftsflüchtlinge.

Weil derzeit aus Sicht der Autoren nichts dafür spricht, dass sich an den ursächlichen Problemen in Afrika und im Nahen Osten auf mittlere Sicht etwas ändert, brauchten sowohl Deutschland als auch die EU ein strategisches Konzept, dass neben der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch die Entwicklungspolitik sowie die Zuwanderungspolitik umfasse. Erstens müsse man flexibler als bisher auf die Probleme reagieren, da sich oftmals die Verhältnisse in den Herkunftsländern binnen Kurzem dramatisch veränderten. Dies zeigte sich beispielsweise beim Ausbruch des „Arabischen Frühlings“, der 2011 schlagartig die Flüchtlingszahlen aus Ägypten oder Tunesien in die Höhe getrieben hatte. Zweitens müsse Europa den afrikanischen und arabischen Ländern gezielter helfen, um die Lebensbedingungen und Wirtschaftschancen vor Ort zu verbessern. Drittens gelte es, viel stärker als bisher auch in dieser Weltregion nach Fachkräften für den europäischen Arbeitsmarkt zu werben, fordert das Berlin-Institut. Gerade Deutschland drohe in den kommenden Jahren eine zunehmende Personalnot. Derzeit zieht das wirtschaftsstärkste Land der EU zwar viele Migranten aus anderen europäischen Ländern an. Doch da die Bevölkerung des gesamten Kontinents in den nächsten Jahrzehnten schrumpft, sollte die EU die Einwanderung aus Drittstaaten viel gezielter als bisher fördern, so die Autoren.

Noch gibt es in Deutschland nur relativ wenige Migranten aus Afrika oder dem Nahen Osten. Von 16 Millionen hier lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln stammen lediglich 3,4 Prozent aus Afrika, knapp drei Prozent aus dem Nahen Osten. Auch von den 2013 im Saldo zugewanderten 460.000 Personen kamen 75 Prozent aus Europa, aber nur je 30.000 aus Afrika und dem Nahen Osten. Die Studie weist jedoch darauf hin, dass die Einwanderung aus Ländern wie Syrien oder dem Iran zuletzt stark zugenommen hat.

Für Institutschef Klingholz steht fest, dass für Europa weder eine Abschottung eine Lösung darstellt noch eine weitgehende Öffnung der Grenzen aus humanitären Gründen. Denn unkontrollierte Flüchtlingsströme würden innerhalb der EU-Bevölkerung die Vorbehalte gegen Ausländer schüren und rechtsextremen Parteien Zulauf verschaffen. Um das gesellschaftliche Klima für die geregelte und erwünschte Zuwanderung von Fachkräften nicht zu vergiften, müsse die irreguläre Migration effektiver als bisher unterbunden werden, fordert das Institut. Nötig seien nicht nur eine Harmonisierung der höchst unterschiedlichen nationalen Asylpolitiken innerhalb der EU, sondern auch ein fairer Schlüssel zur Verteilung der Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten. Eine gerechtere regionale Verteilung der Flüchtlinge verlangt auch die Bundesregierung, zumal Deutschland nach Schweden derzeit die meisten Asylbewerber aufnimmt. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat für diese Forderung jüngst Rückendeckung in Brüssel erhalten.