Der Bundespräsident warnt in seiner Rede zur friedlichen Revolution von 1989 vor aktuellen Bedrohungen der Demokratie

Leipzig. Dass es ihm an diesem Tag nicht nur um eine Angelegenheit unter Deutschen geht, hat Joachim Gauck schon vor Monaten klargemacht: Als er im Mai ankündigte, zusammen mit den Präsidenten Polens, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei zur Erinnerung an die Friedliche Revolution nach Leipzig zu kommen. Zum Gedenken an die Demonstration Zehntausender DDR-Bürger am 9. Oktober vor 25 Jahren, die einen historischen Wendepunkt markierte und zum Fall der Mauer einen Monat später entscheidend beitrug.

Dass der Bundespräsident aber den Blick weit hinaus über den Zusammenbruch der Sowjetunion und über die daraus folgende Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa richten würde, wird klar, als Gauck im Leipziger Gewandhaus ans Rednerpult tritt. Es geht ihm um die Verpflichtung Deutschlands aus dem friedlichen Aufbegehren der Demonstranten des 9. Oktober 1989. Es geht ihm um die daraus erwachsene Verantwortung seines Landes, die Demokratie zu verteidigen – und zwar weltweit, in den großen internationalen Krisen, die die Kontinente erschüttern.

„Gerade in Zeiten, in denen alte Ordnungen infrage stehen und für viele alte Gewissheiten verloren gehen, sollten wir uns an unsere Erfahrungen von 1989 erinnern“, sagt Gauck. „Wer nur abseits steht und sich heraushält, wird zum beherrschten Objekt.“ Wer aber mit „Selbstermächtigung“ seine Angst vertreibe, gewinne Handlungsmöglichkeiten. „Das gilt für die Entwicklung im Innern, aber auch nach außen.“

Terrorismus, Fundamentalismus, Gewalt, Anarchie und Bürgerkrieg – Gauck benennt die aktuellen Bedrohungen der Demokratie. Auch das Russland von Präsident Wladimir Putin und sein Vorgehen in der Ukraine zählen für ihn dazu: „Am Rande Europas werden Normen des Völkerrechts missachtet und militärische Mittel eingesetzt, wo friedliche Koexistenz möglich wäre.“

Dann richtet der Bundespräsident seinen Appell an das Land, dessen gewaltloses Zusammenwachsen er zunächst als Pastor in Rostock, dann als Politiker, später als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde und nun als Staatsoberhaupt miterlebt hat. Er wendet sich mit seinem Aufruf an jeden einzelnen Bürger und damit auch an die Politiker. „Wir haben offensichtlich neu nachzudenken, welche Mitverantwortung Deutschland angesichts dieser veränderten Lage für die ‚Eine Welt‘ zu tragen bereit ist – gemeinsam mit seinen Freunden und Partnern“, mahnt Gauck. „Einfach ist es nicht, das Prinzip Verantwortung nicht nur im eigenen engeren Lebensbereich zu praktizieren, sondern auch in der erweiterten europäischen und globalen Dimension.“

Deutschland müsse sich ernsthaft fragen, ob es für die freiheitliche Demokratie, wie sie etwa vor 25 Jahren in Leipzig errungen wurde, überzeugend genug werbe. „Nicht, weil sie vollkommen wäre, sondern weil sie die beste aller bisherigen Ordnungen ist“, sagt Gauck. „Wir haben uns zu fragen, ob wir genügend tun, um den Wert eines Systems zu erläutern, das auf dem Recht beruht.“ Und: „Wir haben uns zu fragen, ob wir genügend Anstrengungen unternehmen, um wirklich alle Demokraten zusammenzuführen, gleichgültig welcher Religion, Ethnie oder politischer Orientierung sie angehören.“ Nur so fänden Intoleranz, nationalistische Hybris, Hass und Gewalt keinen Nährboden. „Nur so wird jeder in unserem Land selbstbestimmt und ohne Angst leben können.“

Mit seinem Aufruf zum weltweiten Einsatz für eine demokratische Grundordnung treibt Gauck die von ihm angestoßene Auseinandersetzung um eine größere Rolle Deutschlands bei der Bewältigung internationaler Krisen weiter voran. Bereits Ende Januar hatte Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein stärkeres Engagement angemahnt – notfalls auch mit militärischen Mitteln. Trotz teils harscher Kritik erneuerte Gauck seine Forderungen seither mehrfach. In Leipzig, in seiner „Rede zur Demokratie“, fügt der Bundespräsident nun eine weitere Dimension der Verantwortung hinzu: Das Bewerben, Erklären und Verteidigen freiheitlicher und demokratischer Prinzipien sieht er als Krisenprävention – und als Ansporn, die Scheu vor einer gefahrvollen Einmischung in Großkonflikte abzulegen.

Denn genau so hatten es die Leipziger Demonstranten des 9. Oktober 1989 vorgemacht. Dramatisch aufgeladen war damals die Atmosphäre in der Stadt. Den Bürgern, die die Enge des Regimes und den Verfall ihrer Stadt nicht länger hinnehmen wollten, standen Tausende voll bewaffnete Sicherheitskräfte gegenüber, die von der Staatsführung zusammengezogen worden waren. Die Geschäfte schlossen früh. Elternpaare überlegten sich, ob sie es wagen konnten, am Abend gemeinsam im Demonstrationszug mitzulaufen – oder ob für den Fall einer gewalttätigen Eskalation besser einer von ihnen zu Hause bleibt bei den Kindern. „Die DDR war ein Unrechtsstaat“, urteilt Gauck.

Erst wenige Wochen vor dem Leipziger Revolutionszug, im Sommer 1989, hatte die chinesische Führung in Peking mit Panzern die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen, in der DDR hatten Polizisten und Stasi-Leute bei den Feierlichkeiten zum 40. Staatsjubiläum am 7. Oktober mit Gewalt Demonstranten auseinandergetrieben. „Aber sie kamen trotzdem: Zehntausende überwanden ihre Angst vor den Unterdrückern, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht“, sagt Gauck heute.

So gelang in Leipzig die Wende: Nach dem Friedensgebeten in dr Nikolaikirche, nach den Appellen der Pastoren für Gewaltlosigkeit, zogen um die 70.000 Menschen über den Leipziger Stadtring, viele hielten Kerzen in den Händen, „reiht Euch ein“, wurden Passanten ermuntert. So umrundeten sie die Innenstadt, sie riefen: „Wir bleiben hier“ und „Wir sind das Volk“, sie zogen zur „Runden Ecke“, dem Gebäude der damaligen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, einem neuralgischen Punkt in der Stadt, an dem immer die Gefahr eines Gewaltausbruchs bestand.

Doch die Kerzen, die Gesänge, die Friedfertigkeit der Demonstranten führten dazu, dass die Sicherheitskräfte sich zurückhielten. Aufnahmen des gewaltigen Lichterzuges gelangten über das West-Fernsehen zurück in die DDR-Stuben, und damit wurde in Ost und West klar, dass die Demokratiebewegung nicht mehr aufzuhalten war. „Aus dem Aufbruch der Mutigen war eine Bewegung der Massen geworden, die unaufhaltsam zur Friedlichen Revolution heranwuchs“, so beschreibt es Gauck. „Überall erlebten wir damals, wie Mut, Fantasie und Kraft eine demokratische Öffentlichkeit schufen.“

Ausdrücklich würdigt Gauck auch diejenigen, die aus der DDR geflohen waren oder das Land per Ausreiseantrag verlassen hatten – wie seine eigenen Kinder. „Erst später haben wir begriffen, welch große politische Bedeutung auch sie für die Delegitimierung der DDR besaßen.“

Gauck hatte bereits im vorigen Jahr das alljährliche Lichterfest in Leipzig besucht, für ihn ist der 9. Oktober mindestens so bedeutend wie der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. „Vor der Einheit kam die Freiheit“, sagt er. Und dann redet Gauck den Deutschen noch einmal ausdrücklich ins Gewissen, und zwar, was die Demokratie im eigenen Land angeht. Er warnt vor einer selbst verschuldeten Ohnmacht durch diejenigen, die nicht mitreden wollten und nicht zur Wahl gingen. „Wir dürfen niemals vergessen, dass unsere Demokratie nicht nur bedroht ist durch Ideologen und Extremisten, sondern dass sie ausgehöhlt werden und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit Leben erfüllen.“ Die jungen Demonstranten in Hongkong hätten das sehr gut verstanden.