Wegen schwerer Mängel beim Material kann die Truppe ihre Nato-Verpflichtungen kaum erfüllen

Berlin. Piraten in Sicht! „Safeguard, Safeguard – Annäherung an ein Fahrzeug“, dröhnt es aus den Lautsprechern der Fregatte „Köln“, die 200 Seemeilen vor der Küste am Horn von Afrika kreuzt. Alle sprinten auf ihre Gefechtsstationen, auch die Besatzung des Hubschraubers auf dem Flugdeck.

So läuft das, wenn die Bundeswehr Freibeuter jagt – und selbst darüber schreibt. Die kleine Episode aus dem Einsatz der Marine bei der Operation „Atalanta“, der Anti-Piraten-Mission der EU im Indischen Ozean, stammt aus „Y – Das Magazin der Bundeswehr“, herausgegeben vom Bundesministerium der Verteidigung. Das Heft hat die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte zu beschreiben. Die Geschichte über die Fregatte „Köln“ erschien im Februar 2012, aus gegebenem Anlass. Denn im Jahr zuvor waren erstmals Berichte über Risse im Heck eines Sea-Lynx-Hubschraubers bekannt geworden. Davon freilich steht kein Wort in dem Text.

Es handele sich um ein Ermüdungsversagen des Materials, hieß es in einem Untersuchungsbericht, ein Einzelfall offenbar. Ganze fünf Tage hielt diese Einschätzung. Dann traten wiederum Risse an den Hubschraubern auf. Diesmal waren gleich 15 Maschinen betroffen, umgehend wurden sämtliche 22 Sea Lynx aus dem Verkehr gezogen. Bis heute ist kein einziges Gerät für den Einsatz bei der Operation „Atalanta“ freigegeben.

In seltener Einigkeit hatten die Abgeordneten der Regierungs- und Oppositionsfraktionen beschlossen, am Mittwoch die Inspekteure sämtlicher Teilstreitkräfte einzubestellen. Mitbringen sollten die Generäle eine aussagekräftige Übersicht über die „materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte“. Im Klartext ging es also um die Frage: Welche Waffensysteme der Bundeswehr sind tatsächlich einsatzfähig? Das Ergebnis war ein Offenbarungseid. Ob Schiffe, Panzer, Hubschrauber, Flugzeuge oder Raketenabwehr: Bei fast allen Systemen ist nur die Hälfte des Buchbestandes für Einsätze oder Übungen verfügbar, bei manchen gar nur ein Drittel. Der Rest ist in Reparatur, wartet auf Instandsetzung oder dient als Ersatzteillager.

Verschärft wird das Problem dadurch, dass die Verteidigungsministerin international ständig vor allem jene Fähigkeiten anbietet, die Mangelware sind. Von der Leyen weiß, dass die Industrie mit der Auslieferung des Transall-Nachfolgers A400M vier Jahre in Verzug ist. Dennoch zählt Lufttransport zu ihren Lieblingsbeiträgen zu internationalen Missionen.

Die Gefahr, Aufträge nur beschränkt erfüllen zu können, besteht bei allen Missionen, an denen die Transalls beteiligt sind. Am Donnerstag reiste von der Leyen in den Irak, um in Erbil die Arbeit der deutschen Fallschirmjäger in Augenschein zu nehmen, die kurdische Kollegen in die Bedienung der von der Bundesregierung gelieferten Waffen einweisen sollen. Das Problem: Weder Fallschirmjäger noch Waffen waren vor Ort. Das modernste Transportflugzeug der Bundeswehr brauchte sechs Tage vom Start in Norddeutschland bis zur Landung im Nordirak . „Ein peinliches Schauspiel“ sei das, sagt Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Vizepräsident des Europäischen Parlaments.

Tobias Lindner, für die Grünen Mitglied im Verteidigungsausschuss, kann über die Posse nicht lachen. Er weist darauf hin, dass Ministerin von der Leyen eine Luftbrücke mit vier Transall-Maschinen in die Ebola-Gebiete Westafrikas plant. „In zeitkritischen Szenarien – etwa einer Evakuierungsoperation – wäre der Ausfall von gleich drei Transall auf dem Hin- oder Rückweg nicht so leicht zu entschuldigen“, sagt Lindner.

Der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Karl Müllner, wies darauf hin, dass nicht nur das Material, sondern auch das Personal knapp sei. So sei der Einsatz der Patriot-Flugabwehrstaffeln an der Grenze zur Türkei für die Soldaten kaum noch durchzuhalten. Generell stoße die Luftwaffe an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.

Und das hat nicht nur Auswirkungen auf die laufenden Missionen, sondern auch auf die Verpflichtungen gegenüber der Nato. Einige der Waffensysteme, die von der Bundesrepublik im Rahmen des „Nato Defense Planning Process“ als abrufbereit an die Verteidigungsallianz gemeldet sind, könne jedenfalls die Luftwaffe derzeit nicht zur Verfügung stellen, führte Müllner sinngemäß aus. Das heißt übersetzt: Die Bundeswehr ist aktuell nur bedingt bündnisfähig.

Nach den Vorträgen der Inspekteure ist für den ehemaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe (SPD) klar: Die deutschen Streitkräfte sind in einem katastrophalen Zustand, ihre Einsatzfähigkeit ist stark reduziert „Es ist fünf nach zwölf. Über zwei Jahrzehnte ist die Bundeswehr systematisch kaputtgespart worden, deshalb heute strukturell unterfinanziert. Es ist ein Jammerspiel.“ Robbe wünscht sich von der Verteidigungsministerin einen „Kurswechsel, hin zu funktionierenden und nachhaltig finanzierten Strukturen“.

Was nötig ist, liegt auf der Hand: Seit 2010 hat die Bundeswehr einen Beitrag zu einem ausgeglichenen Bundeshaushalt geleistet, der das verantwortbare Maß offenbar überschritten hat. Zeitweise wurde ein „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ eingeführt, was bedeutet: Die Truppe muss mit 70 Prozent der Ausrüstung auskommen, die für ihre Stärke notwendig wäre. Von der Leyen kann aber nicht einfach nur mehr Geld fordern. Sie muss zunächst eine Verwaltung schaffen, die es auch ausgeben kann. Denn in den vergangenen sechs Jahren, so hat der CSU-Verteidigungsexperte Florian Hahn ausgerechnet, konnte das Ministerium aufgrund von Fehlplanungen rund vier Milliarden Euro nicht ausgeben. Aber offenbar findet die Ministerin, dass die Probleme gar nicht so sehr drängen. Die Bundeswehr sei einsatzfähig und in der Lage, ihre Aufträge zu erfüllen, ließ sie mitteilen.