Industrie fordert: Bundesregierung soll in die bröckelnde Infrastruktur investieren

Berlin. Im ersten Jahr der Großen Koalition war aus Unternehmerkreisen viel Unmut über die Regierung zu hören. Mindestlohn, Rentenpaket, Frauenquote, Pflegereform – in Windeseile gossen Union und SPD Wahlversprechen in Gesetze. Vergeblich wehrten sich die Arbeitgeber gegen neue Belastungen. „Die Koalition war bisher zu viel mit der Komfortabsicherung der Bürger beschäftigt und zu wenig mit der Stärkung der Wirtschaftskraft“, lautete denn auch die Bilanz, die der Präsident des mächtigen Industrieverbands BDI, Ulrich Grillo, am Dienstag bei der Eröffnung des Tages der Industrie zog. Die Bundesregierung sei auch mitverantwortlich für die derzeitige Verunsicherung in der Wirtschaft und die Konjunkturflaute. Doch der Unternehmer ist Pragmatiker. „Jammern hilft nichts. Wir müssen nach vorne schauen“, so der BDI-Chef.

Angesichts der sich eintrübenden Konjunkturaussichten hat die Industrie eine lange Wunschliste, die Grillo Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Vize, SPD-Chef Sigmar Gabriel, präsentierte. Dringend nötig sei eine Investitionsoffensive, mahnte er. Deutschland fahre seit Jahren auf Verschleiß. Der Bund müsse mehr Geld in die Hand nehmen, um die vielerorts bröckelnde Infrastruktur zu sanieren. „Ein erster, richtiger Schritt sind die zusätzlichen fünf Milliarden Euro, welche die Bundesregierung bis 2017 bereitstellen will“, so Grillo. Nötig seien aber vier Milliarden Euro jährlich.

Der Industriechef reiht sich damit ein in die Riege der Kritiker, die der deutschen Bundesregierung vorwerfen, Sparsamkeit zu übertreiben. Für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist Deutschlands Abstieg bereits programmiert, wenn die gigantische Investitionslücke nicht rasch geschlossen werde. Auch international steht die Merkel-Regierung unter Beschuss. Sowohl die EU-Kommission als auch die USA drängen Berlin zu einer Lockerung des Konsolidierungskurses.

Merkel räumte ein, dass Deutschland auf mittlere Sicht mehr in seine Infrastruktur investieren müsse. Das gelte allerdings nicht nur für den Staat, sondern auch für den Privatsektor. Wirtschaftsminister Gabriel lässt derzeit von einer Expertengruppe Modelle entwickeln, um privates Kapital für Infrastrukturvorhaben zu nutzen. Die Kanzlerin machte deutlich, dass auch sie an einem engen Schulterschluss mit der Wirtschaft interessiert ist, um den Standort für die Zukunft zu stärken. Die digitale Revolution verändere Wirtschaft und Gesellschaft in einem atemberaubenden Tempo, sagte die CDU-Chefin. Weltweit sei ein rasanter Strukturwandel in Gang. „Die kommenden fünf Jahre sind entscheidend für die Frage, wo wir in Zukunft wirtschaftlich stehen werden“, so Merkel.

Merkel unterstrich, dass sie nicht bereit ist, den Konsolidierungspfad zu verlassen. Der Bund will 2014 das erste Mal seit mehr als 40 Jahren ohne neue Schulden auskommen. Auch für die folgenden vier Jahre ist ein ausgeglichener Haushalt vorgesehen. Allerdings beruhen diese Prognosen der Regierung auf relativ optimistischen Wachstumsannahmen. Doch seit dem Frühjahr läuft der Konjunkturmotor nicht mehr rund. Der BDI geht für das laufende Jahr nicht mehr wie bisher von zwei Prozent Wachstum aus, sondern nur noch von 1,5 Prozent. Vor allem die Krisen in Osteuropa und im Nahen Osten beunruhigen die Wirtschaft. Auch die Nachfrage der Schwellenländer wie China oder Indien hat sich abgeschwächt. BDI-Präsident Grillo verwies zudem auf die gestiegenen Strompreise in Deutschland und die Unsicherheit über die Zukunft der Energiewende. „Unsere weltweit einzigartigen Wertschöpfungsketten sind in Gefahr“, so Grillo.