Die Sozialdemokraten Jan Stöß und Raed Saleh wollen Regierender Bürgermeister werden. Selbst in der eigenen Partei gibt es Vorbehalte gegen beide

Berlin. Im Rennen um die Nachfolge von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) liegt SPD-Landeschef Jan Stöß vorn. Einen Tag nach dem Rücktritt Wowereits sprachen sich in einer Umfrage 23 Prozent der Berliner für Stöß aus, elf Prozent für seinen Kontrahenten, SPD-Fraktionschef Raed Saleh. Das hat der aktuelle Berlin Trend, eine repräsentative Umfrage im Auftrag der „Berliner Morgenpost“ und der RBB-„Abendschau“, ergeben. Infratest dimap befragte dazu 603 wahlberechtigte Berliner am Telefon.

Noch am Dienstag hatten Stöß und Saleh ihre Kandidatur erklärt. Wie in der Umfrage deutlich wird, sind beide Kandidaten, die sich in einem Mitgliedervotum den 17.000 Berliner Sozialdemokraten stellen wollen, noch nicht sehr bekannt unter den Berlinern: 44 Prozent der Befragten sagten, dass sie keinen von beiden als Regierenden Bürgermeister wünschten. Und sogar 20 Prozent räumen ein, die beiden Bewerber nicht zu kennen oder keine Meinung über sie zu haben.

Wichtiger als die Einstellung aller Wähler ist für den Ausgang des Kandidatenrennens die Meinung von Sympathisanten oder Mitgliedern der SPD zu Stöß und Saleh. Und auch hier ist die Ausgangslage vor Beginn des parteiinternen Wahlkampfs eindeutig: 29 Prozent der SPD-Wähler unterstützen den Landesvorsitzenden, 14 Prozent sprechen sich für den Fraktionschef aus. Im Lager der SPD hält aber immer noch jeder dritte Befragte die beiden für nicht geeignet für das höchste Amt in der Stadt, jeder Vierte kennt die Kandidaten nicht oder hat keine Meinung.

Trotz der ungeklärten Nachfolge sind die Berliner aber mehrheitlich zufrieden, dass Klaus Wowereit nach 13 Jahren als Regierender Bürgermeister sein Amt im Dezember aufgeben wird. 70 Prozent halten seinen Rücktritt für richtig. Nur 18 Prozent sagten, der Schritt sei nicht richtig. Auch die SPD-Anhänger halten Wowereits Zeit für abgelaufen: 64 Prozent bewerten seinen Rückzug positiv. Am meisten Überdruss hatte sich in den Lagern von CDU und Grünen angestaut. 78 beziehungsweise 77 Prozent der jeweiligen Parteianhänger begrüßten den Rücktritt des 60 Jahre alten Politikers.

„Eindeutiger hätte das Ergebnis nicht sein können“, sagte Richard Hilmer, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap, zu der Einschätzung von 70 Prozent der Befragten, Wowereits Rücktritt sei richtig. „Große Zustimmung zu diesem Schritt, wenig Widerspruch“, bilanzierte der Meinungsforscher.

Hilmer nannte auch das Ergebnis der Umfrage mit Blick auf die Nachfolgekandidaten Stöß und Saleh eindeutig. Zwei Drittel der Befragten konnten sich zu den Befragten keine Meinung bilden oder reagierten eher ablehnend. Es sei bemerkenswert, dass diese Gruppe größer ist als die der Stöß- und der Saleh-Befürworter zusammen (23 beziehungsweise elf Prozent), sagte der Infratest-dimap-Geschäftsführer. „Das ist schon schwierig für die Kandidaten. Und es öffnet möglicherweise das Tor für weitere Bewerber.“ Selbst bei den SPD-Anhängern seien die beiden „noch nicht richtig angekommen“ und offenbar nicht richtig bekannt. An ihrer Bekanntheit zu arbeiten sei nun ihre vordringliche Aufgabe. „Jetzt ist das Rennen offen, nicht unbedingt zum Vorteil der SPD“, so Hilmer.

Beim Thema Neuwahlen seien die Berliner völlig gespalten. Die Gruppe derjenigen, die sich für eine vorgezogene Abstimmung aussprachen, war nur unwesentlich größer als die Befürworter einer Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition bis zum Herbst 2016. Ein interessantes Detail: Während die Landes- und Fraktionsführung der Berliner Grünen vehement und geschlossen für Neuwahlen eintritt, folgen die Anhänger der Partei dem nicht. Deutlich mehr als die Hälfte im Grünen-Lager sagte, die Koalition solle bis zum regulären Ende der Legislaturperiode weitermachen. Diese Diskrepanz trete in Umfragen nicht zum ersten Mal auf, stellte der Infratest-dimap-Geschäftsführer fest. Schon bei Umfragen im Januar 2013, nach einem weiteren abgesagten Eröffnungstermin für den Großflughafen BER, sowie im Januar dieses Jahres, nach der Steueraffäre um den damaligen Kulturstaatssekretär André Schmitz, hätten die Grünen-Anhänger sich anders positioniert als ihre prominenten Landespolitiker.

„Auch damals waren sie bei der Frage nach vorgezogenen Neuwahlen bemerkenswert zurückhaltend“, so Hilmer. Es sei auffällig, dass die Grünen-Spitze in diesen Fragen nicht in Übereinstimmung mit ihren Anhängern sei. Anders sei es bei den Linken. Die erkennbare Mehrheit bei den CDU-Wählern könne als Wunsch gedeutet werden, in der nächsten Koalition stärkste Kraft zu werden. Wenig überraschend hingegen: Bei den SPD-Anhängern ist die Lust auf Neuwahlen am schwächsten ausgeprägt.

Die Berliner könnten noch nicht abschätzen, für welche Politik Stöß und Saleh stehen, sagte Hilmer. Im innerparteilichen Wahlkampf vor dem Mitgliederentscheid sollten beide vor allem tunlichst Angriffe auf den anderen vermeiden. Das habe Saleh in Rundfunkinterviews auch schon deutlich praktiziert. Der Mitgliederentscheid sei „überaus wichtig“, so Hilmer. Stöß sei zwar vom Landesparteitag der SPD im Amt des Parteichefs bestätigt worden, allerdings lediglich mit rund 68 Prozent der Stimmen. „Das wurde immer wieder als nicht allzu großer Rückhalt interpretiert“, sagte Hilmer. Und das mache den Unterschied zwischen einem Parteitag und einer Mitgliederbefragung aus: „Die gibt ausreichende Legitimation, selbst wenn sie nur 51 zu 49 Prozent ausgehen sollte.“

Da es keinen „natürlichen Wowereit-Nachfolger“ gebe, sei die Entscheidung sinnvoll und richtig, einen Mitgliederentscheid herbeizuführen. Zudem habe SPD-Chef Sigmar Gabriel Vorgaben gemacht, als er die SPD-Mitglieder über die Große Koalition abstimmen ließ. Das könne man nicht mehr ohne Weiteres zurückdrehen. Hilmer erinnerte daran, dass Wowereit bei seinem Amtsantritt ein „relativ unbeschriebenes Blatt“ gewesen sei.

„Er hat dann sehr schnell Furore gemacht mit dem berühmten Satz ,Ich bin schwul, und das ist auch gut so‘. Damit hat er eine völlig neue Position besetzt und nicht nur eine große Bekanntheit erreicht, sondern auch eine gesellschaftspolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland angestoßen.“ Irgendwann sei Homosexualität in der Politik kein Thema mehr gewesen. „Vergleichbares ist heute schwer herzustellen“, sagte Hilmer.

Der neue Regierende Bürgermeister müsse das Amt neu interpretieren. Was jetzt erforderlich ist, sei durch konkrete Politikfelder klar definiert, durch „Baustellen, die Wowereit hinterlassen hat und die sein Nachfolger beenden muss“: Der Flughafen BER müsse eröffnet werden, es brauche „klare Ansagen in Sachen Bürgerpartizipation“. Ob in Zukunft der Migrationshintergrund von Raed Saleh in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielt, sei noch unklar, sagte der Meinungsforscher. „Berlin ist in Wowereits Zeit deutlich offener und toleranter geworden. Ob die Stadt deshalb schon bereit ist, einen Politiker mit Migrationshintergrund an die Spitze der Landesregierung zu stellen, muss sich noch herausstellen.“