Der „Kremlastrologe“, Kommunismus- und Russlandexperte Wolfgang Leonhard ist tot. Er starb im Alter von 93 Jahren

Hamburg. Unter den „Kremlastrologen“, die aus Andeutungen, speziellen Formulierungen, Weglassungen oder Betonungen in offiziellen sowjetischen Verlautbarungen die wahren Absichten der Machthaber zu deuten versuchten, war Wolfgang Leonhard der Großmeister. Aus eigener Erfahrung kannte er die Rituale der Macht, die Täuschungsmanöver und Manipulationsstrategien. Am Sonntag ist der Historiker und Publizist, der zu den interessantesten Zeitzeugen des sowjetischen Systems gehörte, im Alter von 93 Jahren in einer Klinik in Daun in der Eifel einer schweren Krankheit erlegen.

Auf seiner Geburtsurkunde war nicht zufällig Wladimir vermerkt, denn Wolfgang Leonhards Mutter Susanne gehörte sozusagen zum kommunistischen Hochadel, sie war noch mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg befreundet gewesen. Sein Vater, der sowjetische Diplomat Mieczysław Broński, gehörte zu den Vertrauten von Wladimir Iljitsch Lenin, nach dem das Kind genannt wurde. Aber die Nähe zur Macht war in Stalins Reich stets gefährlich, was Susanne Leonhard, die 1935 mit ihrem Sohn nach Moskau emigriert war, am eigenen Leib erfahren musste: Schon ein Jahr später wurde sie denunziert und zu zwölf Jahren Lagerhaft im sibirischen Workuta verurteilt. Die Ehe mit Mieczysław Broński bestand schon nicht mehr, aber er hätte ihr kaum helfen können: Wie viele Lenin-Vertraute ließ Stalin ihn verhaften und 1938 erschießen. So wuchs Wladimir Leonhard in sowjetischen Kinderheimen auf, ging auf Eliteschulen und wurde systematisch auf den Einsatz im Dienst der Kommunistischen Internationale vorbereitet. Damals lernte er auch Markus Wolf, den späteren Auslandsgeheimdienstchef der DDR, kennen.

Das nahende Kriegsende brachte für Leonhard einen Karriereschub, denn der von Stalin zum ostdeutschen Diktator erkorene KP-Funktionär Walter Ulbricht nahm ihn in sein Team auf, das die kommunistische Machtübernahme in der sowjetischen Besatzungszone konspirativ vorbereiten sollte. Mit neun anderen Funktionären saß Leonhard am 30. April 1945 in einem sowjetischen Flugzeug, das die „Gruppe Ulbricht“ in dem brandenburgischen Ort Bruchmühle absetzte. Sein Vorname Wladimir, gab Ulbricht dem jungen Kommunisten damals zu verstehen, sei problematisch, er solle sich lieber einen deutschen aussuchen, worauf sich Leonhard für Wolfgang entschied.

Schon wenig später zog die Gruppe in das inzwischen befreite Berlin, um politische Strukturen aufzubauen. Das Motto, das Ulbricht dafür ausgab, hieß: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“

Eine spannende Innenansicht der kommunistischen Machtzentrale hat Wolfgang Leonhard 1955 mit dem Erlebnisbericht „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ geliefert, der zum Best- und Longseller wurde. Schon Mitte der 1940er-Jahre waren Leonhard Zweifel an der kommunistischen Heilslehre gekommen. 1949 brach er mit dem Stalinismus, setzte sich zunächst nach Jugoslawien ab und siedelte ein Jahr später in die Bundesrepublik über. Er schrieb zahlreiche Bücher über die kommunistische Ideologie, Geschichte und Politik, lehrte in Oxford, an der Columbia University und in Yale.

Wolfgang Leonhard war ein scharfsinniger Analytiker, der die radikalen Veränderungen, die sich 1985 mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU abzeichneten, früher als viele seiner Kollegen erkannte. Dass die Zunft der „Kremlastrologen“ so schnell ihr eigentliches Thema verlieren würde, hat freilich auch Leonhard nicht vorherzusagen vermocht.