In Sant’ Anna di Stazzema wurden am 12. August 1944 insgesamt 560 Menschen bestialisch ermordet. Dem Hamburger Gerhard Sommer, 93, droht jetzt nach 70 Jahren der Prozess.

Gerhard Sommer ist 23 Jahre alt, als er mit der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ in das italienische Dorf Sant’ Anna di Stazzemaeinfällt. Es ist der 12. August 1944. Um drei Uhr nachts haben sich etwa 300 deutsche Soldaten auf den Weg gemacht. Drei Stunden später umzingelt das Bataillon das Dorf von vier Seiten. Um 6.30 Uhr beginnt das Morden.

Die ersten alten Männer werden von den deutschen Soldaten schon beim Aufstieg auf der Straße erschossen. Drei Stunden später ist das Massaker vorbei. 560 Menschen sind tot. Aufgeschlitzt, erschossen, erschlagen, verbrannt. Alte, Frauen, Kinder, Säuglinge. Sie liegen in Häusern, in Ställen, auf der Straße, auf dem Kirchplatz. Sieben Tage später, am 19. August 1944, erhält Gerhard Sommer das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Bis heute musste sich keiner der beteiligten SS-Männer vor einem deutschen Gericht für das Kriegsverbrechen verantworten.

70 Jahre nach dem Massaker in der Toskana kann jetzt doch noch einem der Beschuldigten in Deutschland der Prozess gemacht werden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft wartet auf Gerichtsakten aus Karlsruhe, um „zügig“ zu prüfen, ob gegen den heute 93-jährigen Gerhard Sommer Anklage erhoben wird. Danach sah es lange nicht aus.

Gerhard Sommer ist am 22. Juni 2005 von einem italienischen Gericht zusammen mit neun weiteren Deutschen wegen hundertfachen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Das Militärgericht hatte Soldbücher ausgewertet und bei der Wehrmachts-Auskunftsstelle in Berlin Informationen eingeholt, um so beweisen zu können, in welcher Funktion und bei welcher Einheit die Angeklagten gewesen waren.

Die italienischen Juristen befragten Zeugen und Historiker, stützten sich außerdem auf zahlreiche Beweise der Alliierten, um das Geschehen bis ins Detail aufzuklären. Da sich aber deutsche Staatsangehörige nicht ausliefern lassen müssen, wurden die Auslieferungsanträge der Militärstaatsanwaltschaft zurückgewiesen.

Es gibt einige Geständnisse von SS-Männern. Einer der in Italien Verurteilten hat öffentlich zugegeben, auf eine Gruppe von Frauen und Kinder geschossen zu haben, „bis der Patronengurt leer war“. Der ehemalige SS-Mann Adolf Beckert hat im Prozess als Zeuge bestätigt, wie sie Frauen und Kinder auf dem Kirchplatz „niedermähten“. Beckerts Kinder hatten ihrem Vater zur Aussage geraten, „um Frieden zu finden“. Drei der zehn in Italien verurteilten Täter haben keine Revision gegen den Richterspruch eingelegt.

Die Seniorenresidenz in Volksdorf ist von dichtem Wald umgeben. Gerhard Sommer wohnt in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stock. Seine Frau, mit der er fast 60 Jahre lang verheiratet gewesen ist, ist vor einigen Jahren gestorben. Die älteste der drei Töchter ist 62 Jahre alt. Eine lebt seit fast 30 Jahren in Indien. Die jüngste Tochter kümmert sich um ihn.

Gerhard Sommer hat eine Zugehfrau namens Maria, die am Tag für ihn sorgt. Er hat einen Notrufknopf um den Hals, das Gehen am Rollator fällt ihm schwer – die Hüften. Er hört schlecht, hat aber kein Hörgerät. An einer Hand fehlt ihm ein Finger. Den hat er in Italien durch eine Explosion verloren.

Seit vor Jahren die ersten Berichte über Gerhard Sommers Beteiligung an dem Massaker erschienen, nimmt er an Veranstaltungen in der Residenz nicht mehr teil. Frühstück und Abendessen bekommt er in seiner Wohnung. Morgens ein Brötchen mit Honig und Marmelade, dazu noch einen Teller mit Milchsuppe und Kaffee. Abends eine Scheibe Brot mit Wurst oder Käse, dazu am liebsten schwarzen Tee. Nachmittags ein Stück Kuchen oder Obst. Manchmal geht er zum Mittagsessen in den hellen Wintergarten.

Die entscheidende Frage für die Hamburger Staatsanwaltschaft lautet: Ist der 93-Jährige verhandlungsfähig? Der gerichtsärztliche Dienst in Hamburg stellte am 26. Oktober 2013 bei Gerhard Sommer eine Verhandlungsunfähigkeit aufgrund intellektueller Einschränkungen fest. Nach Informationen des Abendblatts soll es im März 2014 eine weitere Begutachtung Sommers gegeben haben. Und die kommt wohl zu einem gegenteiligen Ergebnis. Demnach sei Gerhard Sommer eine Teilnahme an einem Prozess zuzumuten, er sei geistig belastbar, sein Denken sei nicht beeinträchtigt. Natürlich sei ein Prozess für einen 93-Jährigen eine große Belastung. Aber wenn gewisse Vorkehrungen getroffen würden, sei es möglich, das Risiko einer gesundheitlichen Schädigung zu minimieren.

„Aktuelle Gutachten gehen von einer leicht eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit aus“, sagt Gabriele Hei-necke. Die Hamburger Rechtsanwältin vertritt als Nebenklägerin Enrico Pieri, einen Überlebenden des Massakers.

Gerhard Sommer ist am 24. Juni 1921 in Hamburg geboren worden. Er wuchs in der Ottersbekallee in Eimsbüttel auf und hatte noch einen 20 Jahre älteren Stiefbruder. Sein Vater war Kaufmann und exportierte Maschinen ins Ausland. Nach dem Abitur wurde Gerhard sofort Soldat. Mit 18 Jahren trat er in die NSDAP ein. Einen Monat später wurde er als einfacher Soldat in die Waffen-SS übernommen. In der SS-Division „Leibstandarte Adolf Hitler“ kämpfte er an der Front im Westen, auf dem Balkan und in der Ukraine. Dort wurde er zweimal verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse.

Zu dem Massaker in der Toskana hat sich Gerhard Sommer bisher nur einmal geäußert. In der Kontraste-Sendung im April 2004 sagte er den Journalisten: „Für mich ist diese Zeit jetzt erledigt, ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen. Ich hab ein absolut reines Gewissen, und weiter möchte ich jetzt von dieser Sache jetzt nichts wissen.“

Kann man die Bilder des Grauens so tief in sich begraben, dass sie auch nachts nicht hervorbrechen? Nach dem Krieg hat Gerhard Sommer mehr als 40 Jahre lang mit seinem Stiefbruder die Maschinenexport-Firma des Vaters in Hamburg weitergeführt. Er konnte auch deshalb unbehelligt den Geschäften nachgehen, eine Familie gründen und drei Kinder großziehen, weil die italienische Justiz jahrzehntelang untätig geblieben ist. Kriegsverbrecherprozesse gegen den Nato-Partner Deutschland, der zudem viele Gastarbeiter anwarb, waren nicht opportun.

Es ist viel von Schande die Rede im Zusammenhang mit Sant’ Anna di Stazzema. Es gibt den „Schrank der Schande“. Er stand im Palazzo Cesi, dem Sitz der Militärstaatsanwaltschaft in Rom. Darin wurden 1960 die Unterlagen über die von SS und Wehrmacht begangenen Verbrechen – Zeugenaussagen, Dokumente und Fotos – aufbewahrt. Die umfangreichen Ermittlungsakten blieben auch deswegen lange Zeit unentdeckt, weil der braune Holzschrank einfach umgedreht worden war. Mit den Türen zur Wand, so dass sich diese nicht mehr öffnen ließen. Erst 1994 stieß Staatsanwalt Antonino Intelisano durch Zufall auf die Akten, als er in dem Verfahren gegen den deutschen SS-Offizier Erich Priebke ermittelte.

Es gibt auch viele, die die Ermittlungen der deutschen Justiz für eine Schande halten.

Als der italienische Militärstaatsanwalt Marco De Paolis pausenlos Amtshilfeersuchen zur Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten an die deutschen Ermittlungsbehörden stellte, vergab die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen das Verfahren 2002 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Der Grund: Aus Baden-Württemberg kamen die meisten und auch der älteste der 14 Beschuldigten.

Nach zehn Jahren stellte Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler die Ermittlungen am 26. September 2012 mangels Tatverdacht ein. Es habe sich bei dem Massaker zwar um eine Kriegsverbrechen gehandelt. Aber es sei in zehn Jahren Ermittlung nicht gelungen, einen individuellen Schuldnachweis für den Mordtatbestand zu führen. Möglicherweise sei es „nur“ um die Bekämpfung von Partisanen gegangen, es gebe keine Nachweise einer geplanten und befohlenen Vernichtungsaktion.

Bereits im Jahr 2005 hatte Gabriele Heinecke die Vertretung für Enrico Pieri übernommen. „Es dauerte ein Jahr, bis ich Akteneinsicht bekam“, sagt sie. Häußler hätte argumentiert, mehr als 60 Jahre nach dem Massaker könne der Ermittlungserfolg gefährdet sein, wenn die Opfer Einsicht nähmen. „So etwas hatte ich bis dahin nicht erlebt“, sagt die Strafrechtlerin.

In einem Telefonat habe ihr Häußler mit Blick auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes im Fall Friedrich Engel wegen Geiselerschießungen 1944 erklärt, das Mordmerkmal der Grausamkeit ließe sich nicht nachweisen. Der Bundesgerichtshof hatte in jener Entscheidung neben der objektiven Grausamkeit eine besondere subjektive Grausamkeit gefordert, bei der es dem Täter auf das qualvolle Sterben des Opfers gerade ankommt. „Andere Mordmerkmale wollte der Staatsanwalt nicht prüfen und erklärte schon im Juni 2005, es werde von ihm keine Anklage geben“, sagt Heinecke. Mord verjährt, im Gegensatz zu Totschlag, nicht.

Im Juni 2013 stellte die Hamburger Anwältin für Enrico Pieri beim Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe Antrag auf Erzwingung der Anklage. Da lebten nur noch vier der ehemals 14 Beschuldigten.

Gegen drei – so das OLG – sei der Klageerzwingungs-Antrag unzulässig. Einer sei nicht mehr verhandlungsfähig. Einer habe sich wohl im Lazarett befunden. Einer sei lediglich Mannschaftsdienstgrad gewesen. Im Fall des verantwortlichen Kompanieführers Gerhard Sommer aber haben die Richter dem Klageerzwingungs-Antrag vor einer Woche recht gegeben.

Es gibt nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, man müsse einen 93-Jährigen nicht mehr vor Gericht stellen. Er habe sowieso ein Leben lang mit der Schuld leben müssen, was bringe jetzt noch eine Verurteilung wegen hundertfachen Mordes?

Michael Göring ist Vorsitzender des Vorstandes der „Zeit“-Stiftung in Hamburg. In seinem Roman „Vor der Wand“ hat er das Massaker in Sant’ Anna di Stazzema verarbeitet. Soll ein 93-Jähriger noch vor Gericht gestellt werden? „Ja“, sagt Michael Göring, „in meinen Augen ist das gerecht. Hier wird ein Urteil im Namen des deutschen Volkes gefällt. Und damit entschuldigt sich Deutschland vor aller Welt und vor den Nachkommen der Opfer für seine Verbrechen. Zugleich würden wir damit zeigen, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben.“

Dann hätte die Erinnerungskultur eine Wirkung, sagt er. Es dürfe kein Weggucken geben. „Man muss doch aus der Geschichte lernen können.“

Es gibt die Geschichte des Überlebenden Enio Mancini. Er war sechs Jahre alt und versteckte sich mit anderen Kindern im Wald, als sie entdeckt wurden. Ein junger Soldat, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt, sagte zu seinem Vorgesetzten, er würde sich um die Kinder kümmern. Dann gab der Deutsche den Kindern zu verstehen, sie sollten sich ruhig verhalten und sich entfernen. Er schoss eine Salve mit seiner Maschinenpistole in die Luft. Enio Mancini hat überlebt. Er weiß noch, dass der Deutsche „Peter“ hieß.

Enrico Pieri war damals zehn Jahre alt. Als die Deutschen kamen, verkroch er sich in einer Mauernische. Vor seinen Augen wurde seine fünfjährige Schwester Luciana an den Füßen gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, bis sie starb. Enrico verlor am 12. August 1944 Eltern und Großeltern, Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Insgesamt 27 Familienangehörige. Als er erfahren hat, dass die deutsche Justiz nun vielleicht doch ein Verfahren gegen Gerhard Sommer eröffnet, war er überwältigt, sagt Gabriele Heinecke. Am meisten wünsche er sich, dass die Menschen, die das getan haben, ihm sagen, warum sie es getan haben.

Enrico Pieri ist 80 Jahre alt. Das Massaker hat sein ganzes Leben bestimmt. Er hofft, dass er die gerichtliche Entscheidung noch miterleben wird.