Und wer würde davon am meisten profitieren? Die wichtigsten Fragen zur Initiative von SPD-Chef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel

Berlin. Die deutschen Arbeitnehmer können sich in diesem Jahr auf kräftige Lohnerhöhungen freuen – doch ein Teil der Erhöhung wird von Inflation und kalter Progression wieder aufgefressen. Eine breite Allianz mit SPD-Chef Sigmar Gabriel an der Spitze will den heimlichen Steuerhöhungen den Garaus machen. Nur: Die Kanzlerin hält davon nichts. Und das Bundesfinanzministerium betonte erneut, dass es dafür in den Jahren 2014 und 2015 keinen Spielraum gebe. CDU-Generalsekretär Peter Tauber argumentierte ähnlich. „Wir haben als nächstes Ziel nächstes Jahr den ausgeglichenen Haushalt, und wenn dann Spielräume entstehen, dann ist aus meiner Sicht auch die kalte Progression auf Platz eins der Tagesordnung“, sagte er im ZDF. Als Voraussetzungen nannte er, dass die Bundesländer mitmachen, die Steuereinnahmen weiter sprudeln und es keine Steuererhöhungen gibt.

Der Streit um eine Absenkung der kalten Progression schwelt seit Monaten in der Großen Koalition. Im Koalitionsvertrag ist der Abbau der kalten Progression allerdings nicht als Ziel für diese Legislaturperiode enthalten.

Was die Abschaffung kostet, wer davon profitiert und was der nächste Wahlkampf mit dem Streit zu tun hat, beantwortet das Abendblatt hier:

Ist die Abschaffung der kalten Progression ohne Gegenfinanzierung möglich?

Davon sind vor allem die Befürworter überzeugt. Das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut (RWI) in Essen rechnete vor, die Abschaffung der kalten Progression durch Kopplung der Steuertarifgrenzen an die Inflation werde den Fiskus 3,8 Milliarden Euro im Jahr kosten – da der Grundfreibetrag aber ohnehin an das jeweilige Existenzminimum angepasst werden müsse, entgingen dem Staat sogar „nur“ 2,2 Milliarden Euro im Jahr. „Aufgrund der derzeit hohen Steuereinnahmen wäre eine Abschaffung der kalten Progression daher auch ohne umfangreiche Gegenfinanzierung auf der Einnahmenseite vertretbar“, lautet das Fazit der Forscher. Gesamtmetallpräsident Rainer Dulger sieht das genauso: Mit Rekordsteuereinnahmen von 640 Milliarden Euro erlebten die staatlichen Haushalte gerade ein „goldenes Zeitalter“. Dulger: „Wer da ernsthaft behauptet, für die Abschaffung der kalten Progression sei kein Geld da, der täuscht die Menschen.“ Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) setzt auf den Mindestlohn, der „eine riesige Anzahl von Minderausgaben und Mehreinnahmen“ bringen werde, da die Menschen mehr Sozialabgaben zahlen würden. Dass durch den Mindestlohn auch viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten und sie dann auf Arbeitslosengeld oder Hartz IV angewiesen sind und keine Steuern und Sozialabgaben mehr zahlen, ist in dieser Berechnung Gabriels aber wohl nicht berücksichtigt. Nur mit ein paar buchungstechnischen Haushaltstricks oder Steuermehreinnahmen der Zukunft lässt sich die Abschaffung der kalten Progression nicht finanzieren. Um Kürzungen an anderer Stelle wird der Bund nicht herumkommen. Gabriel spricht hier von Abbau von „Steuersubventionen“.

Werden die Reichen am meisten von der Steuerentlastung profitieren?

Absolut betrachtet stimmt das. Da Bezieher höherer Einkommen im progressiven Steuertarif auch einer höheren Steuerlast unterliegen, werden sie in Euro und Cent mehr entlastet als Bezieher niedriger oder mittlerer Einkommen. Im Schnitt werden die Steuerzahler um 98 Euro entlastet. Wer mehr als 120.000 Euro verdient, spart 409 Euro, wer zwischen 10.000 und 20.000 Euro verdient, nur 42 Euro. Relativ stellen sich die Bezieher von geringen und mittleren Einkommen besser. Die Entlastung liegt im Einkommensbereich von 10.000 bis 20.000 Euro bei knapp zwölf Prozent, bei gemeinsam Veranlagten mit einem Einkommen von 20.000 bis 30.000 sogar bei 14 Prozent. Wer dagegen 60.000 Euro verdient, wird nur um 1,7 Prozent entlastet. Gerade die unteren und mittleren Einkommen wären damit die größten Nutznießer eines „Steuertarifs auf Rädern“.

Hat sich die SPD zur Steuersenkungspartei gewandelt?

Es ist schon paradox: Die SPD, die mit Forderungen nach Steuererhöhungen in den Wahlkampf gezogen war, plädiert nun für „Mehr netto vom brutto“ – und die Spitze des großen Koalitionspartners CDU bremst. Am Montag stellte der Sprecher der Kanzlerin noch einmal klar: Es gibt keinen Spielraum zum Abbau der kalten Progression. „Das oberste Ziel der Bundesregierung heißt ausgeglichener Haushalt und keine Neuverschuldung“, sagte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter. Er warnte davor, bei den Bürgern falsche Hoffnungen zu wecken. Vielleicht will man sich das Thema aber auch für Wahlkampfzeiten aufheben. Auf den nächsten Wahlkampf schielt wohl auch SPD-Chef und Vizekanzler Gabriel. Ihm geht es darum, das wirtschaftspolitische Profil seiner Partei zu schärfen. Die SPD will nicht nur für Soziales zuständig sein. Bisher ist nicht zu erkennen, dass die Partei in den Meinungsumfragen zulegt – trotz Mindestlohn und Rentenpaket. „Um aus dem Getto der 25 Prozent zu kommen, braucht es neue und erweiterte Angebote für die arbeitende Mitte, zum Beispiel in der Steuerpolitik“, sagt Jörg Asmussen, Staatssekretär im Arbeitsministerium von Andrea Nahles. Kein Zweifel, die Sozialdemokraten sind dabei, der Union das angestammte Thema „Steuersenkungen“ wegzunehmen.

Will die SPD an anderer Stelle Steuern erhöhen?

Die Union reagiert wohl auch deshalb so zurückhaltend auf den Steuer-Vorstoß des SPD-Vizekanzlers, da sie eine neue Debatte um Steuern, insbesondere Steuererhöhungen, fürchtet. Die SPD-Linke steht bereits in den Startlöchern. Eine „seriöse Gegenfinanzierung“ fordert Parteivize Ralf Stegner, das heiße weder auf Pump noch zulasten von Bildung, Soziales oder Infrastruktur. Bleiben eigentlich nur Steuererhöhungen an anderer Stelle – etwa auf große Einkommen oder Vermögen. Damit kann man sich auch auf dem Arbeitnehmerflügel der Union anfreunden: Der CDA-Vize Christian Bäumler kann sich einen höheren Spitzensteuersatz vorstellen.