Der Abwärtstrend ist gestoppt: Nachdem 2004 und 2009 nur in Brandenburg noch weniger Menschen als in Hamburg zur Europawahl gegangen waren, beteiligten sich diesmal wieder deutlich mehr Hanseaten. Europaweit sind Konservative vorn, Sozialdemokraten knapp dahinter, extreme Rechte gestärkt.

Hamburg/Berlin/Brüssel. Hamburgs Sozialdemokraten haben die Europawahl klar für sich entschieden. Laut dem vorläufigen Endergebnis kam die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Knut Fleckenstein am Sonntag in der Hansestadt auf 33,8 Prozent – das sind 8,4 Punkte mehr als bei der Wahl vor fünf Jahren. Die CDU dagegen – damals noch mit 29,7 Prozent vom Wähler ausgestattet – kam diesmal nur auf 24,5 Prozent. Wegen der allein von der CDU praktizierten Landeslisten mit ihren komplizierten Berechnungsmethoden wusste ihr Spitzenkandidat Roland Heintze deshalb auch bis zum Schluss nicht, ob er nun den Sprung ins EU-Parlament geschafft hat oder nicht.

Erfreulich für alle Parteien hatte sich die Wahlbeteiligung entwickelt. „Die Wahlbeteiligung lag in Hamburg bei erfreulichen 43,4 Prozent“, sagte Landeswahlleiter Willi Beiß am Abend. 2009 waren es nur 34,7 Prozent gewesen – dem nach Brandenburg bundesweit schlechtesten Ergebnis. Um wieder mehr Menschen in die Wahllokale zu locken, wurde deshalb erstmals die Europa- mit der Bezirksversammlungswahl zusammengelegt. Deren Ergebnisse wurden erst am Montag erwartet.

Bei der Europawahl mussten neben der CDU auch die Grünen und die FDP Verluste hinnehmen. Sie kamen in Hamburg auf 17,2 Prozent (2009: 20,5 Prozent) beziehungsweise 3,7 Prozent (11,1). Zulegen konnten dagegen die Linken, die 8,6 Prozent (6,7) erreichten, sowie die Alternative für Deutschland (AfD), die aus dem Stand auf 6,0 Prozent kam. Von den 751 EU-Abgeordneten stellt Deutschland 96, voraussichtlich vier von ihnen stammen aus Hamburg: Neben Fleckenstein und Heintze sind dies Jan Philipp Albrecht (Grüne) und Fabio De Masi (Linke). „Die deutlichen Zugewinne für die Sozialdemokraten sind in erheblichem Maße auf den großen Einsatz und die bisherige Arbeit ihres Spitzenkandidaten zurückzuführen“, erklärte SPD-Bundesvize und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz mit Blick auf den EU-Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Martin Schulz. In Deutschland gebe es eine große Mehrheit für jene, die an die europäische Idee glauben. „Deutschland hat – das lässt sich so sagen - pro-europäisch gewählt.“

Der CDU-Spitzenkandidat Heintze zeigte sich wegen der Unsicherheiten in seinem Fall zunächst zurückhaltend. Dass die CDU in Hamburg unter dem Bundesergebnis liege, sei normal, sagte er. Er freue sich jedoch sehr über die gestiegene Wahlbeteiligung. „Das ist ein toller Erfolg.“ Der Hamburger AfD-Spitzenkandidat Jörn Kurse nannte seine Partei die Gewinnerin der Wahl. Gleichzeitig kündigte er an, dass die AfD bei der Bürgerschaftswahl im Februar 2015 antreten werde. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in die Bürgerschaft einziehen werden.“

Erfreut zeigten sich auch die Linken: „Jetzt hoffen wir, dass Die Linke auch gestärkt aus den Bezirksversammlungswahlen hervorgehen wird, damit wir in allen sieben Bezirksversammlungen vertreten sind und unsere erfolgreiche Politik fortsetzen können“, erklärte Linken-Sprecher Bela Rogalla. Wegen der großen Zahl der Stimmen - insgesamt konnten die wegen der möglichen Teilnahme von 16- und 17-Jährigen fast 1,4 Millionen Wahlbeteiligten zehn Stimmen abgeben - wurden erst am Montag erste Ergebnisse erwartet. Bei der Bezirksversammlungswahl hatten sich insgesamt rund 1800 Kandidaten um die knapp 360 Sitze beworben. Die Bezirksversammlungswahl 2011 konnten die Sozialdemokraten klar für sich entscheiden. Im Schnitt über alle sieben Bezirke kamen sie auf 45,3 Prozent, während die CDU nur 23,4 Prozent erreichte. Die Grünen vereinten 13,7 Prozent der Stimmen auf sich, die Linke kam auf 7,2 und die FDP auf 5,5 Prozent.

Konservative bei Europawahl trotz Einbußen vorn – Rechte im Aufwind

Aus der Europawahl in 28 Ländern ist die konservative Europäische Volkspartei (EVP) mit Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker als stärkste Kraft hervorgegangen. Allerdings schrumpfte ihr Vorsprung auf die europäischen Sozialdemokraten. Nach der jahrelangen Eurokrise legten zugleich rechtsorientierte und populistische Parteien stark zu. In Deutschland verteidigten die Unionsparteien ihre Vorrangstellung - allerdings bei herben CSU-Verlusten. Die SPD mit Junckers Rivalen Martin Schulz als europäischem Spitzenkandidaten legte am Sonntag nach ihrem Tief vor fünf Jahren kräftig zu. Das Rennen um den EU-Chefposten des Kommissionspräsidenten blieb offen.

In der Berliner Koalition begann noch am Wahlabend ein Tauziehen um diese Personalie. Der konservative Parteienblock EVP errang nach der am späten Abend vom Europaparlament veröffentlichten Prognose 28,1 Prozent der Stimmen – deutlich weniger als 2009 (35,77). Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) mit ihrem Spitzenkandidaten Schulz kam mit 25,7 Prozent auf Platz zwei. Auf Platz drei lagen die Liberalen mit 9,85 Prozent. Rechtsaußen-Parteien kamen auf insgesamt rund 18 Prozent. In Frankreich wurde die rechtsextreme Front National (FN) mit rund 25 Prozent sogar stärkste Kraft.

Mit dem EVP-Sieg sind die Chancen des luxemburgischen Ex-Premiers Juncker auf den Posten des EU-Kommissionschefs gestiegen. Der EVP-Fraktionsvorsitzende Joseph Daul sagte: „Die EVP wird ihren Kandidaten als Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission vorschlagen.“ Allerdings beanspruchte SPD-Chef Sigmar Gabriel den Posten für seinen Parteifreund, den bisherigen EU-Parlamentspräsidenten: „Das Wahlergebnis hat einen Namen, und der lautet Martin Schulz.“ Die Staats- und Regierungschefs, die den Chef der Brüsseler Behörde vorschlagen, müssen das Wahlergebnis berücksichtigen. Bis die Personalentscheidung steht, könnte es noch Wochen dauern.

In Deutschland erreichte die Union von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach den Hochrechnungen von ARD und ZDF vom späten Abend 35,4 bis 35,6 Prozent – ihr schlechtestes Europa-Ergebnis seit 1979, noch weniger als 2009 (37,9) und auch deutlich schwächer als bei der Bundestagswahl im September (41,5). Diese Verluste gingen allein auf das Konto der CSU, die in Bayern rund acht Prozentpunkte einbüßte. Die SPD verbesserte sich auf 27,2 Prozent – sie hatte 2009 allerdings mit 20,8 Prozent auch ihr schlechtestes Europawahl-Ergebnis eingefahren.

Die Grünen sackten auf 10,8 Prozent (12,1). Die Linke erreichte wie vor fünf Jahren 7,4 bis 7,5 Prozent. Die FDP stürzte wie zuvor schon bei der Bundestagswahl nun auch auf EU-Ebene ab und kam nur auf 3,1 bis 3,3 Prozent (11,0). Die euroskeptische Alternative für Deutschland (AfD) schaffte es bei ihrer ersten Europawahl mit einem starken Ergebnis von 6,8 bis 7,1 Prozent ins Parlament – ein wichtiger Erfolg der Partei von Bernd Lucke auch mit Blick auf die Landtagswahl Ende August in Sachsen, bei der sie ihre Position in der deutschen Politik verankern will.

Nach den Hochrechnungen ergibt sich folgende deutsche Sitzverteilung im EU-Parlament: CDU/CSU 35 Mandate, SPD 27, Grüne 11, Linke 7, FDP 3 und AfD 7. Die Bundesrepublik als größtes EU-Land stellt 96 der künftig 751 EU-Parlamentarier. Sie sind für fünf Jahre gewählt. Diesmal hatten auch Kleinparteien eine Chance, weil im Februar das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel für die Europawahl gekippt hatte. So erreichte die rechtsextreme NPD einen Sitz, ebenso Piraten, Freie Wähler, Tierschutzpartei, Familienpartei und ÖDP.

Mit knapp 48 Prozent zeichnete sich am Abend in Deutschland eine bessere Wahlbeteiligung als 2009 (43,3) und 2004 (43,0) ab. EU-weit blieb die Beteiligung mit 43,1 Prozent konstant niedrig. Insgesamt waren in den 28 Staaten der Europäischen Union 400 Millionen Bürger aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Allein in Deutschland waren es 64,4 Millionen, darunter 2,9 Millionen aus anderen EU-Staaten.

Die Europawahl war in Deutschland nach Einschätzung der Forschungsgruppe Wahlen vor allem bundespolitisch geprägt. Für 54 Prozent war bei der Stimmabgabe die Bundespolitik entscheidend, nur für 40 Prozent die Europapolitik. Die Wahlforscher ermittelten, 72 Prozent der SPD-Wähler wollten Schulz als EU-Kommissionspräsidenten - aber nur 41 Prozent der CDU/CSU-Anhänger den EVP-Spitzenmann Juncker. In Frankreich gewann die rechtsextreme Front National (FN) die Europawahl. Nach europakritischem Wahlkampf konnte die Partei unter Marine Le Pen laut ersten Prognosen einen deutlichen Stimmenzuwachs verbuchen und kam auf 25 Prozent (2009: 6,3). Die regierenden Sozialisten mussten erneut eine schwere Schlappe hinnehmen: Die Partei von Präsident François Hollande landete bei etwa 14 Prozent (2009: 16,5) und damit hinter der konservativen UMP auf Platz drei.

Im Euro-Krisenland Griechenland wurde das oppositionelle Bündnis der radikalen Linken (Syriza) allen Prognosen zufolge stärkste Kraft. Es kommt es auf 26 bis 28 Prozent, noch vor der mit den Sozialisten regierenden konservativen Nea Dimokratia (23 bis 25). Auf Platz drei rangierte die rechtsradikale Goldene Morgenröte (8 bis 10). In Dänemark wurde die rechtspopulistische Dänische Volkspartei stärkste Kraft. Laut Prognose kam die Partei auf rund 23 Prozent. Mit 20,5 Prozent erreichten die regierenden Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt das zweitbeste Ergebnis. In Österreich verteidigte die konservative ÖVP laut Hochrechnungen mit 27,4 Prozent (2009: 30) Platz eins. Die sozialdemokratische SPÖ erreicht mit 23,8 Prozent ein Ergebnis wie vor fünf Jahren. Deutlich zugelegt hat die rechte FPÖ mit 19,5 Prozent (plus 6,9).