Es ist eine Mär, dass Stimmen für das Europaparlament verschenkt sind. Je größer die Beteiligung, desto geringer die Chancen für Partikularinteressen

Berlin/Brüssel. Es ist zwar grober Unfug, aber als doppelte Legende hat es sich festgesetzt: Das Europaparlament habe zum einen nichts zu sagen, sei zum anderen darin aber viel zu mächtig. Warum also am Sonntag wählen gehen? Weil einige Interessengruppen nirgendwo sonst die Chance haben, so direkt Einfluss zu nehmen wie über die EU. Und weil die Wahl für einige Parteien von außergewöhnlicher Bedeutung ist. Außerdem gibt es mit Martin Schulz und Jean-Claude Juncker erstmals Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.

Freihandelskritiker

Die Ängste sind groß und die Worte noch größer. Aushebelung der Demokratie, Machtübernahme durch Großkonzerne, kapitalistenhörige Nebengerichtsbarkeit. Chlorhühnchen auf deutschen Tellern ist noch die geringste Sorge der Gegner eines Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens zwischen der EU und den USA, TTIP genannt. Zeichen oder Folge der Entfremdung zwischen den Mächten der freien Welt, was immer es sei: Es ist eine lautstarke Bewegung, die da der EU und den Amerikanern das Allerschlimmste unterstellt. Wer TTIP nicht will, muss am Sonntag wählen gehen. Das Europaparlament wird das erste der letzten Worte über ein Abkommen haben. Zwar muss wohl auch der Bundestag zustimmen, aber der ist Ende 2015 aller Voraussicht nach derjenige von heute, mit der Mehrheit einer Großen Koalition, deren Parteivorsitzende sich für TTIP aussprechen. Nach Europa sind ausreichend Parteien und Kandidaten zu wählen, die versprechen: Es wird kein TTIP geben. Niemand muss dazu an die extremen Ränder ausweichen: Linke und Grüne sind sowieso dagegen, die Europa-SPD ist bei einer nahezu vollständigen Distanzierung angelangt.

Landwirte

Energie, den Lebenssaft ihrer Wirtschaft, importiert die EU zum Großteil, bei Lebensmitteln aber will sie Selbstversorger sein und lässt sich das 45 Prozent ihres gesamten Etats kosten. 386 Milliarden Euro beträgt das Budget für Agrarsubventionen zwischen dem Jahr 2014 und 2020 – der größte Einzelposten im EU-Haushaltsrahmen. Nichts wurde häufiger und nichts wurde ein jedes Mal wieder mit dem Anspruch reformiert, alles vom Kopf auf die Füße zu stellen als die europäische Agrarpolitik. Die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung nennt sie als Ziel, die Landschaftspflege und die Ökologie. In der Praxis bedeutet EU-Agrarpolitik immer noch: Die größten Bauern bekommen die dicksten Kartoffeln: 20 Prozent der Betriebe greifen 80 Prozent der Subventionen ab. Ob sich das ändert oder nicht, wie die Gelder künftig verteilt werden und ob der EU auch künftig so viel an der Landwirtschaft liegen wird, wird vom Europaparlament mitbestimmt. Die Landwirtschaft macht kaum mehr als zwei Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus. Die Agrarbeihilfen sind längst zur Einkommensquelle für Bauern geworden. Wer Landwirt ist, wird wählen gehen.

Datenschützer und Google-Hasser

Das „Recht auf Vergessen“ hat Jan Philipp Albrecht in seine Vorlage für eine europäische Datenschutzgrundverordnung geschrieben. Der grüne EU-Abgeordnete hat sich den entsprechenden Berichterstatterposten geangelt, in dem er die Parlamentsposition zu dem Gesetzesprojekt koordinieren und mitbestimmen kann. Auch wenn das „Recht auf Vergessen“ es nicht in dieser Form in die Verordnung geschafft hat: Wer um den Schutz seiner Daten besorgt ist und die Zeigefreudigkeit der Internetriesen eindämmen will, der ist besser beraten, sich auf die EU zu verlassen als auf ihre Mitgliedstaaten. Eine breite Koalition bietet sich da an, amerikanischen Konzernen die Stirn zu bieten, von Christ- über Sozialdemokraten bis zu Grünen, Linken und Liberalen. Der Tenor, gestärkt von einer jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs: Wer in Europa Geschäfte macht, muss sich an europäisches Recht halten. Und das bestimmt das Europaparlament entscheidend mit.

Anhänger der Grünen

Anders als die großen Parteien fiebern die Grünen der Europawahl geradezu entgegen – die einen in der Hoffnung, nach der herben Niederlage bei der Bundestagswahl ein Comeback in der Wählergunst zu feiern. Die anderen allerdings in der bangen Sorge, womöglich erneut einen Dämpfer zu kassieren. Grünen-Chefin Simone Peter, die ihre Rolle noch nicht wirklich gefunden hat, nennt die Europawahl ein „Sprungbrett“ für die drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern im Herbst. Bislang haben die Grünen bei Europawahlen stets besser abgeschnitten als auf Bundesebene. Peter gibt jetzt als Zielmarke ein zweistelliges Ergebnis aus. Das klingt mutig nach den 8,4 Prozent bei der Bundestagswahl. Tatsächlich legt Peter die Messlatte aber nicht allzu hoch: Denn bei der Europawahl 2009 hatten die Grünen noch 12,1 Prozent der Stimmen eingefahren. Das muss der Vergleichsmaßstab sein.

FDP-Motivierer

Um noch ein kleines bisschen Aufmerksamkeit zu erheischen, muss die in Deutschland in die außerparlamentarische Opposition abgestürzte FDP einigen Aufwand betreiben. An diesem Freitag stellte sich der Parteivorsitzende Christian Lindner neben eine Eiswand vor das Brandenburger Tor. Damit wollte er auf die Gefahr aufmerksam machen, dass durch die großzügige Rentenpolitik der Großen Koalition der Generationenvertrag dahinschmilzt. Durchsetzen kann man mit solchen Aktionen freilich gar nichts. In Europa dagegen spielen die Liberalen noch eine wichtige Rolle. Sie sind mit vier Regierungschefs im EU-Rat vertreten, bestimmen also über den künftigen Kommissionspräsidenten mit. Mit dem Finnen Olli Rehn und dem Belgier Guy Verhofstad schicken sie sogar gleich zwei eigene Kandidaten ins Rennen. Und im EU-Parlament stellt die liberale Alde derzeit die drittgrößte Fraktion. Wer also möchte, dass die FDP noch irgendwo was zu sagen hat, der sollte wählen gehen.

Freunde kleiner Parteien

Erstmals in der 33-jährigen Parteigeschichte kann sich die Familien-Partei Deutschlands genauso wie andere Kleinstparteien Hoffnungen machen, den Sprung ins Europaparlament zu schaffen. Denn nachdem das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Monaten die Drei-Prozent-Hürde gekippt hat, steigen die Chancen für die sogenannten sonstigen Parteien – neben der Familien-Partei sind auch die Alternative für Deutschland (AfD), die Piraten, die Freien Wähler und die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) hoffnungsfroh. Wie viele Stimmen ausreichen, um zumindest einen der 96 für Deutschland reservierten Sitze im Europaparlament zu ergattern, hängt von der Wahlbeteiligung insgesamt ab. Wäre bei der vorigen Europawahl 2009 schon keine Drei-Prozent-Sperrklausel mehr in Kraft gewesen, hätte es für den Einzug mehrerer kleiner Parteien gereicht.