Noch 2013 forderten die Grünen eine Reichensteuer. Parteichef Cem Özdemir sagt, mit welchen Themen sie jetzt zurück an die Regierung wollen

Hamburg. Zeitweise wurden die Grünen schon als dritte Volkspartei neben Union und SPD gehandelt. Doch seit der Wahl im Herbst 2013 sind sie nicht einmal mehr stärkste Oppositionspartei. Nun stehen viele neue Gesichter an der Spitze der Partei – Cem Özdemir ist geblieben. Der Bundesvorsitzende über Fehler im Wahlkampf und die Bequemlichkeit deutscher Regierungspolitiker in der Ukraine-Krise.

Hamburger Abendblatt:

Herr Özdemir, haben Sie Frau Merkel und Herrn Gabriel schon eine Flasche Schampus geschickt?

Cem Özdemir:

Nein, bestimmt nicht. Wozu denn?

Die Grünen könnten sich wieder als Reformpartei profilieren, da die Große Koalition die Milliarden Euro Steuereinnahmen für die Rente verteilt.

Özdemir:

Wir brauchen nicht die Kanzlerin oder den Vize-Kanzler, um Reformpartei zu sein. Aber zugegeben: Die Koalition macht es uns leicht; ihre Politik hat mit Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit nichts am Hut. An der Rente mit 63 Jahren und der Mütterrente wird Deutschland noch lange nagen. Das kostet uns zehn Milliarden Euro im Jahr. Das Geld ist verplant – und es fehlt uns bei Investitionen in Straßenbau und Breitbandausbau, genauso aber beim Einsatz für echte soziale Gerechtigkeit.

Im Wahlkampf im Herbst warben die Grünen mit linken Forderungen wie einer Reichensteuer um Wähler. Das Ergebnis: nur 8,4 Prozent der Stimmen.

Özdemir:

Die Vermögensabgabe, die wir im Wahlkampf gefordert haben, wäre aus heutiger Sicht nicht verfassungskonform. Die Voraussetzung dafür wäre ein finanzieller Notstand des Staates. Angesichts sprudelnder Steuereinnahmen kann davon keine Rede sein. Die Vermögensabgabe ist hinfällig geworden. Sie spielt im Programm der Grünen bis 2017 keine Rolle mehr. Denn ich gehe davon aus, dass wir auch 2017 keinen Finanznotstand haben werden. Unsere Forderung nach einem Eindämmen des Ehegatten-Splittings war schlecht kommuniziert, aber inhaltlich richtig: Kinder, die in Familien ohne Trauschein aufwachsen, dürfen steuerlich nicht schlechtergestellt werden. Leider verstanden viele Wähler den Vorstoß der Grünen zur Abschaffung des Ehegatten-Splittings als Kampfansage an das klassische Familienmodell. Da müssen wir andere Signale setzen. Einen tiefen Eingriff in langjährige Ehen die sich auf ein bestimmtes Steuermodell eingestellt haben, gibt es mit mir nicht.

Schließt die Partei unter Ihrer Führung Frieden mit der Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Koalition?

Özdemir:

Ich habe mich nie von der Agenda 2010 verabschiedet.

Andere Grüne schon.

Özdemir:

Wir haben uns in der Partei ausführlich mit den Stärken und auch der einen oder anderen Schwäche der Agenda 2010 beschäftigt. Man sollte übrigens künftig jedes Gesetzespaket nach einer gewissen Zeit in Bezug auf die beabsichtigten Wirkungen überprüfen. Aber auch die anderen Projekte können sich sehen lassen: Der Ausstieg aus der Atomenergie war damals Pionierpolitik. Wir haben das Staatsbürgerschaftsrecht entrümpelt sowie die Gleichstellung von Schwulen und Lesben vorangetrieben.

Ging es bei der Agenda nicht eher um Arbeitsmarktpolitik als um Gleichstellung?

Özdemir:

Die Agenda 2010 war auch hier fortschrittlich, wenn man an die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe denkt. Sicher gab es dabei auch falsche Weichenstellungen: Die Grünen wollten schon damals einen Mindestlohn einführen, doch die SPD hat das nicht mitgetragen und holt es jetzt nach.

Die Grünen haben mit Ausnahme von Ihnen die Spitze ausgetauscht. Die Neuen fallen bisher aber nur wenig auf. Fehlt Ihnen Jürgen Trittin?

Özdemir:

Wieso sollte er mir fehlen? Ich sehe ihn regelmäßig in den Fraktionssitzungen. Ansonsten hat er in bemerkenswerter Weise aus dem Wahlergebnis von 8,4 Prozent klare Konsequenzen gezogen. Und wir arbeiten jetzt als Partei und Fraktion gemeinsam daran, die Grünen wieder dorthin zu führen, wo sie hingehören und in den Ländern häufig schon sind: mehr Prozente und 2017 in die Bundesregierung.

Europa erlebt mit dem Machtkampf in der Ukraine eine schwere Krise – trotzdem interessiert sich nur eine Minderheit für die Europawahl Ende Mai.

Özdemir:

Leider ist die nationale Brille in Europa stärker geworden. Doch die Auseinandersetzung mit Putins aggressivem Kurs beweist, wie wichtig das Friedensprojekt Europa ist. Die Bürger müssen mit ihrer Stimme bei der Wahl auch ein Signal der Geschlossenheit Europas setzen. Mit Russlands Präsident Putin sollten die 28 EU-Staaten mit einer Stimme verhandeln. Beispiel Energiepolitik: Es kann nicht sein, dass alle Staaten im Alleingang Verträge mit Gazprom verhandeln. In gemeinsamen Verhandlungen ist die EU stärker.

Handelt die Bundesregierung in der Ukraine-Krise richtig?

Özdemir:

Derzeit verwundert mich die Bequemlichkeit einiger deutscher Regierungsvertreter, die sich lieber nicht mit Industrievertretern anlegen und vor Sanktionen zurückschrecken, dafür aber locker flockig über Truppenbewegungen schwadronieren. Wenn Putin weiterhin provoziert und die gewalttätigen Separatisten in der Ostukraine nicht zur Ordnung ruft, muss die EU auch mit Wirtschaftssanktionen gegen Russlands Oligarchen reagieren. Allerdings ist auch die Regierung in Kiew dringend aufgefordert, nun besonnen zu agieren und weitere Eskalation zu vermeiden. Die Pseudo-Referenden der Separatisten in der Ostukraine können nicht anerkannt werden Aber die Übergangsregierung in Kiew sollte sich nun auf den Vorschlag der OSZE zu runden Tischen für einen nationalen Dialog einlassen. Des Weiteren muss sie ihrerseits Korruption bekämpfen und allen Bewohnern im Land das Gefühl geben, dass die neue Ukraine ein Rechtsstaat und eine echte Demokratie wird und die Lehren aus der ersten Orangenen Revolution gelernt wurden. Schließlich wollten die Studenten auf dem Maidan nicht einfach Herrn Janukowitsch durch Frau Timoschenko ersetzen.

Verstehen Sie Wladimir Putin noch?

Özdemir:

Putin hat offenkundig das Interesse, seine eurasische Union auszudehnen und frühere GUS-Staaten in seine Einflusszone zu ziehen und dafür braucht er die Ukraine ...

… um Einflusszonen geht es auch der Nato bei ihrer Osterweiterung und der EU mit ihren Assoziierungsabkommen.

Özdemir:

Die EU sollte der Ukraine nicht aufnötigen, sich für oder gegen Russland oder die EU entscheiden zu müssen. Die Ukrainer müssen selbst entscheiden, welchen Weg das Land geht. Deshalb ist die Präsidenten-Wahl in Kiew Ende Mai von zentraler Bedeutung. Dann hat die EU einen legitimen Ansprechpartner, der auf demokratische Weise die Interessen der Menschen in der Ukraine vertritt. Klar ist, das Schicksal der Ukraine darf nie wieder wie in der Vergangenheit zwischen Deutschland und Russland entschieden werden. Die Menschen in Osteuropa sind zu recht sehr empfindlich, denn sie erinnern sich gut an die Geschichte.

Haben Sie Angst vor einem Krieg?

Özdemir:

Ich habe keine Sorge vor einem Krieg in Europa – aber ich sehe die Gefahr eines Bürgerkriegs in der Ukraine. Und vor allem verstehe ich die Ängste unserer östlichen Nachbarn in der EU, deren Erinnerungen an den Stalinismus und die Unterdrückung noch frischer sind, als beim ein oder anderen Zeitgenossen hier, der sich nicht mehr vorstellen kann, was es heißt, auf seine Freiheit verzichten zu müssen.

Isoliert in Moskau lebt der Ex-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden. Sollte der NSA-Untersuchungsausschuss ihn im Bundestag vernehmen?

Özdemir:

Es ist unanständig, dass Snowden in Russland versauern muss. Dank ihm wissen wir, dass Mobilfunkdaten von Millionen Bürgern abgegriffen wurden. Snowden braucht freies Geleit, damit er in den USA aussagen kann. Aber dagegen sperren sich die Amerikaner. Solange müssen die EU und Deutschland Haltung zeigen: Edward Snowden gehört hierher, zu uns. Er muss in Berlin, oder auch in Brüssel, aussagen können.

Viele reden nur über Snowden. Dabei muss es doch um Lehren aus der NSA-Affäre gehen, oder?

Özdemir:

Die Bundesregierung erschwert uns eine Aufarbeitung des Abhörskandals durch britische und amerikanische Geheimdienste. Union und SPD verhindern, dass der Untersuchungsausschuss in interne Regierungsdokumente Einsicht erhält. Offenbar hat die Bundesregierung etwas zu verbergen. Der USA-Besuch von Kanzlerin Merkel zeigt, dass sie selbst dort versucht, zur Tagesordnung zurückzukehren. Sie möchte den NSA-Skandal zügig unter den Teppich kehren. Ich erwarte von der Regierung, dass sie sich schützend vor die ausspionierten Bürger und unsere Unternehmen stellt. Das tut sie bisher eindeutig nicht.