Die Linkspartei straft Fraktionschef und die Parteichefin ab. Gefeierter Liebling der Basis ist der griechische Linkspolitiker Tsipras

Berlin. Es war ein vergiftetes Geschenk, das die Delegierten des Bundesparteitags der Linken im Berliner Velodrom Fraktionschef Gregor Gysi machten. Am zweiten Sitzungstag beschlossen sie fast nebenbei, die Bundestagsfraktion solle bis Ende des Jahres endlich eine quotierte Doppelspitze installieren. Das heißt nichts anderes, als dass der 66-jährige Gysi seinen Platz frei machen soll – für seine bisherigen Stellvertreter Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Denn die gelten im Falle einer Doppelspitze als gesetzt. Theoretisch könnte Gysi mit Wagenknecht eine Spitze bilden – das hat er jedoch immer zu verhindern versucht.

Doch Gysi ging in seiner Rede am Sonntagvormittag mit keiner Silbe auf den Beschluss ein. Einer wie er, so die unausgesprochene Botschaft, lässt sich von niemand vorschreiben, wann er geht. Stattdessen sprach Gysi lang über den Ukraine-Konflikt. Er lieferte dabei die differenzierteste Analyse zum Thema ab, die auf dem ganzen Parteitag zu hören war.

Denn neben dem erwartbaren Nato- und EU-Bashing sowie Vergleichen der Krim mit dem Kosovo mutete er seiner Partei auch ziemlich schwer Verdauliches zu. Die Linke dürfe sich „nicht leichtfertig“ auf eine Seite stellen. Erstaunlich deutlich wandte sich Gysi gegen die Annexion der Krim. „Die territoriale Integrität ist ein sehr wichtiges Kriterium, was erhalten werden muss.“ Er könne auch die Ängste Polens und der baltischen Staaten verstehen, allerdings sehe er diese durch ihre Nato-Mitgliedschaft ausreichend geschützt.

Und dann wurde Gysi doch noch zum Putin-Versteher. Russland würde niemals die baltischen Staaten angreifen, behauptete er. „Darum geht es ihnen nicht. Es geht ihnen um die Sicherheit.“ Die russischen Interessen seien von der EU, der Nato und Deutschland zu keinem Moment respektiert worden: „Ich glaube, der Westen hat nie begriffen, dass Russland Bestandteil Europas ist.“ Ohne Russland werde es keine Sicherheit in Europa geben. Der Nato warf Gysi vor, ihr Versprechen, sich nicht nach Osten auszudehnen, gebrochen zu haben. Nun sei eine „neue Ostpolitik“ nötig, die auf Diplomatie, Respekt und wirtschaftlichen Austausch setze. Sanktionen seien der falsche Weg, sagte Gysi und zitierte dabei ausgerechnet den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger: Dieser habe gesagt, Sanktionen seien kein Ausdruck von Strategie, sondern für die Abwesenheit von Strategie.

Gysis Rede erhielt für seine Verhältnisse nur mäßigen Applaus. Weitere Diskussionen gab es nicht, denn der Fraktionschef teilte den Delegierten seine umgehende Abreise mit. Er müsse noch am selben Nachmittag nach Moskau, um „fordernde Gespräche“ zu führen.

Was den Beschluss zum Fraktionsvorsitz betrifft, so war Parteichef Bernd Riexinger bereits am Morgen eingeknickt. Die Fraktionsspitze sei bis Herbst 2015 gewählt, sagte Riexinger. Erst dann gelte die „Empfehlung“ des Parteitags: „Es gibt keinen Grund, die Legislatur des Fraktionsvorstands abzukürzen.“ Ärger mit der letzten verbleibenden Integrationsfigur, das ist so ziemlich das Letzte, was sich die Parteiführung leisten will.

Zumal derzeit heftig um die politisch korrekte außenpolitische Haltung gestritten wird. Das war spürbar, als die Fraktion bei der Frage nach der Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz gegen syrische Chemiewaffen gespalten war. Das zeigte sich aber auch auf dem Parteitag. Trotz mäßigender Worte von Parteichefin Katja Kipping und einem mehrheitlich beschlossenen Antrag, in dem neben viel Kritik an Nato und EU die Annexion der Krim ausdrücklich „völkerrechtswidrig“ genannt wird, war die Stimmung unter den Delegierten eine andere. „Ich bin eine Russlandversteherin und ich bin keine Nato-Versteherin“, brachte die Sprecherin der Splittergruppe Kommunistische Plattform, Ellen Brombacher, die Stimmung vieler Delegierter auf den Punkt.

Für einen Skandal hätte aber beinahe ein anderer Vorfall gesorgt: Bei der Wahl der Parteivizes fiel der Reformer Dominic Heilig trotz gegenteiliger Absprachen durch. Er unterlag dem Ultralinken Tobias Pflüger, einem schwäbischen Pfarrerssohn. Als das Ergebnis bekannt wurde, zog sich der Reformerflügel zu einer „Auszeit“ zurück. Nach Informationen der „Welt“ soll Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, der Heilig unterstützt hatte, dabei seinen Rücktritt erwogen haben. Doch am Ende wollte man offenbar kein zweites „Trauma von Gera“ riskieren. Auf dem PDS-Parteitag in Gera 2002 hatten die Reformer nach heftigen Flügelkämpfen eine schwere Niederlage erlitten und sich daraufhin den Vorstandswahlen verweigert.

Als Stellvertreter bestätigt wurden schließlich die Bundestagsabgeordnete Caren Lay (55,2 Prozent) und Axel Troost (54,9 Prozent), neu als Vize sind Pflüger (54 Prozent) und die hessische Fraktionschefin Janine Wissler (83,1 Prozent).

Sichtlich bewegt verkündete Höhn seine erneute Kandidatur für das Amt des Bundesgeschäftsführers, nicht ohne das Verhalten von Genossen zu kritisieren. Er wurde wiedergewählt, ebenso wie Riexinger und Kipping. Bemerkenswert war, dass der beim Amtsantritt vor zwei Jahren sehr umstrittene Stuttgarter Ex-Gewerkschafter Riexinger dabei rund zwölf Prozentpunkte mehr erhielt als Kipping. Ein kleiner Denkzettel für die Sächsin, die mit ihrer milden Russlandkritik nicht den Nerv getroffen hatte.

Den meisten Applaus des ganzen Parteitags bekam kein Deutscher, sondern ein Grieche, der mit seinem smarten Äußeren und Auftreten zu einer Art „George Clooney der Linken“ geworden ist. Der griechische Oppositionsführer und Spitzenkandidat der Europäischen Linken, Alexis Tsipras, war nach Berlin gereist, um gegen die Troika zu polemisieren („drei Musketiere der Austerität“) und den Rettungsschirm zu attackieren. Das „neoliberale europäische Establishment“ nutze die Krise, um die Griechen zu Sündenböcken zu machen und den „angelsächsischen neoliberalen Kapitalismus zu etablieren“, sagte Tsipras. Dafür erhielt er langen Applaus. Solidarität mit den gebeutelten Griechen fällt manchem Linken erkennbar leichter als mit den eigenen Genossen.