Der Spitzenkandidat will Präsident der Europäischen Kommission werden. Er ist ein volksnaher Wahlkämpfer

Essen. Kaum ist der Spitzenkandidat auf Wahlkampftour in Essen angekommen, da schlägt er schon etwas vor. Martin Schulz, 58, ist unterwegs im Brennpunkt Altendorf. Der Ortsteil wird durch Neubauten aufgewertet. Einen künstlichen See haben sie angelegt, EU-Gelder flossen. Die Querung des Gewässers müsse man deshalb eigentlich Europabrücke taufen, sagt einer der örtlichen Sozialdemokraten. „Nennt sie doch Martin-Schulz-Passage“, entgegnet Schulz ironisch und blickt in irritierte Gesichter. „Nein, die Brücke ist zu klein für dich“, entgegnet ein Genosse. „Ist ja gut!“, lenkt Schulz ein und gibt den Kommunalpolitikern doch noch einen Tipp: Den See mögen sie „Altendorfer Meer“ nennen: „Dann kriegt ihr auch Tourismus!“

Das Plädoyer für eine Martin-Schulz-Brücke und für ein „Meer“ in Essen – für solche Aperçus ist Schulz bekannt. (Selbst-)Ironie und Sendungsbewusstsein kombiniert der Spitzenkandidat der SPD für die Europawahl. Seine Lebenserfahrung samt einiger schwerer Jahre und eine tiefe europäische Überzeugung prägen Schulz. Geht es nach ihm, fließen seine Biografie im Dreiländereck Deutschland–Belgien– Niederlande und seine Berufung für Brüssel verbunden mit einem unverhohlenen Ehrgeiz alsbald zusammen. Schulz, seit Januar 2012 Vorsitzender des EU-Parlaments, will nächster Präsident der Europäischen Kommission werden. Er wäre der erste Deutsche auf diesem Posten nach dem Christdemokraten Walter Hallstein, dessen Amtszeit von 1958 bis 1967 dauerte.

Bis zum großen Ziel aber hat Schulz aus Würselen bei Aachen, Mitglied des Europäischen Parlaments seit 1994, Hürden zu überwinden: Die Sozialdemokraten müssten mit der Wahl am 25. Mai wohl stärkste Fraktion in Straßburg werden, dann eine Koalition schmieden und genug Abgeordnete finden, die für ihren Spitzenmann votieren wollen. 376 Parlamentarier wären dafür nötig.

In der SPD sehen sie eine realistische Chance für Schulz, das war nicht immer so. Vor einem Jahr, als die Idee eines Spitzenkandidaten für Europa entstand, ging es mehr um ein Symbol. Seither jedoch ist die SPD Regierungspartei geworden, die Konservativen haben eher reaktiv Jean-Claude Juncker zu ihrem Spitzenmann nominiert, die Umfragen geben Schulz Rückenwind. Sozialdemokraten und Europäische Volkspartei liegen europaweit gleichauf. Deshalb soll der Wahlkampf jetzt richtig losgehen. Drei Wochen Zeit bleiben noch, unermüdlich wird Schulz durch Europa reisen, und das Heimatland gilt es auch noch zu beackern.

An Schulz’ europäischer Gesinnung würden nicht einmal seine Kritiker zweifeln. Gerade einmal zwölf Kilometer sind es von seinem Haus nach Belgien, die Niederlande liegen noch näher. Als Schüler, 1971, ging es zum Schüleraustausch nach Bordeaux. Die Namen der Bahnhöfe und die Abfahrtzeiten könne er noch heute auswendig. Die Stationen mancher Pariser U-Bahn rattert er ebenso herunter. Schulz hat ein phänomenales Gedächtnis. Schulz, der Europäer, der in einem Satz zu berichten versteht, er sei jüngst in Italien, Bulgarien, Rumänien, Spanien und Portugal gewesen – und Schulz, der einstige Bürgermeister von Würselen, das ist eine Symbiose.

Manchmal erscheint der Verweis auf Würselen etwas penetrant: etwa beim Gang durch die Krämerstraße von Wismar. Würselen, sagt Schulz, sei zu 86 Prozent im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Überhaupt Würselen, es bietet immer aufs Neue Anknüpfungspunkte für Gespräche. In der Hansestadt dient es dem Rheinländer Schulz als Mittel, um Schweigepausen zu vermeiden, die in Mecklenburg üblich, dem Rheinländer Schulz indes peinlich sind. Schulz lässt Pausen nicht zu.

Er wettert gegen Silvio Berlusconi, der nun „gegen die Deutschen“ kämpfe. Er zieht zu Felde gegen „Spekulanten“, er beklagt die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. Er verteidigt seine kritische Analyse von „Brüssel“. Fehlentwicklungen zu analysieren, das sei etwas anderes als eine Brüssel-Schelte, sagt Schulz. Wer Berliner Politik kritisiere, betreibe ja auch keine Deutschland-Schelte.

Geradezu bescheiden klingt es für Schulz’ Verhältnisse, wenn er darauf verweist, dass die SPD bei den Umfragen zur Europawahl um zwei, drei Prozentpunkte besser dasteht als bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl. Einen „gewissen Identifikationsprozess mit dem Spitzenkandidaten“ analysiert er, der Schulz-Faktor also. In der Tat ist Schulz in seiner Partei geliebt, weitaus mehr geschätzt als Sigmar Gabriel oder Peer Steinbrück. Schulz kommt menschlicher herüber als Steinbrück etwa, zeigt sich verletzlicher.

Offen schildert er, wie er die Schule – ein jesuitisches Gymnasium – nach der elften Klasse verließ: Schulz begann eine Fußballerkarriere, die aber nach zwei heftigen Verletzungen jäh endete. Dann wurde er Buchhändler, floh in den Alkoholismus, kämpfte sich wieder aus der Sucht, trinkt seit Jahren keinen Schluck Bier oder Wein. Nein, Schulz instrumentalisiert diese Lebenskrisen nicht. Aber in der Sozialdemokratie löst ein ungerader Lebensweg Sympathie aus. Wer Schwächen offenbart, wird gestärkt, jedenfalls bei der Basis. Schulz erlebt das gerade.