Chef des Luxemburger Instituts CEPS warnt vor höherer Arbeitslosigkeit in Deutschland mit Blick auf andere europäische Länder

Berlin. Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns drohen in Deutschland erhebliche Verwerfungen am Arbeitsmarkt. Auch wird das Ziel, damit die Armut zu bekämpfen, verfehlt werden. Diese Einschätzung vertritt Hilmar Schneider, Generaldirektor des Luxemburger Forschungsinstituts CEPS. Der Ökonom verweist auf Erfahrungen in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Belgien oder Spanien: „Wir sehen in Europa auf breiter Front eine höhere Arbeitslosigkeit als Folge der Mindestlöhne.“ Wie stark der negative Beschäftigungseffekt ausfalle, hänge vor allem davon ab, wie stark der Mindestlohn die bestehende Lohnverteilung beeinflusse.

21 der 28 Mitglieder der Europäischen Union haben derzeit eine flächendeckende Lohnuntergrenze. Neben Deutschland gibt es lediglich in den skandinavischen Ländern, Italien, Österreich und Zypern keinen einheitlichen Mindestlohn. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat weisen Österreich und Deutschland die niedrigsten Arbeitslosenquoten auf. Auf Platz drei folgt mit Luxemburg allerdings ausgerechnet der Mitgliedstaat, der mit rund elf Euro den mit Abstand höchsten Mindestlohn in Europa hat. Deutschland läge mit der geplanten Höhe von 8,50 Euro in der EU auf dem sechsten Platz.

„Nicht die absolute Höhe ist entscheidend für die Wirkung eines Mindestlohns, sondern die Frage, wie viele Arbeitnehmer er betrifft“, so der CEPS-Chef. „Ökonomen sprechen vom ‚bite‘, also vom Biss, eines Mindestlohns.“ Dies habe sich auch in der deutschen Bauwirtschaft gezeigt, in der schon seit 1997 ein Branchen-Mindestlohn gilt. Während dieser in den alten Bundesländern aufgrund des dort geltenden höheren Lohnniveaus kaum Folgen hatte, gingen in den neuen Bundesländern statistisch nachweisbar Jobs verloren.

Schneider warnt davor, Luxemburgs Beispiel als Indiz dafür zu nehmen, dass selbst eine hohe gesetzliche Lohnuntergrenze keinen Schaden anrichte. „Für Luxemburger Verhältnisse ist der Mindestlohn von 11,10 Euro nicht dramatisch, weil in dem Land die Einkommen insgesamt besonders hoch sind. Für den deutschen Arbeitsmarkt ist dagegen der geplante Mindestlohn von 8,50 Euro durchaus problematisch“, warnt der Arbeitsmarktexperte. Denn es gebe vor allem im Bereich der geringfügigen Beschäftigung heute viele Jobs, in denen niedrigere Löhne gezahlt würden.

Naiv nennt Schneider die in der hiesigen Bevölkerung weit verbreitete Vorstellung, dass vom geplanten Mindestlohn all diejenigen profitieren, die heute weniger als 8,50 Euro verdienen. „Nur ein Teil dieser Menschen wird einen Vorteil in Form einer Lohnsteigerung haben. Der Rest profitiert überhaupt nicht, weil er den Job verliert und dann gar kein Arbeitseinkommen mehr hat.“ Unter dem Strich reduziere die Lohnuntergrenze die Armut nicht, sondern vergrößere das Problem, da Arbeitslosigkeit immer das größte Armutsrisiko sei.

Ein hoher Mindestlohn hat laut Schneider stets Ausweichreaktionen der Wirtschaft zur Folge. Arbeit könne zum einen durch Kapital substituiert werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn Sicherheitskräfte durch Videoanlagen ersetzt werden oder durch den Einsatz neuer Maschinen für die gleiche Produktion weniger Personal nötig ist. „Auch wandern Jobs in die Schwarzarbeit“, warnt der CEPS-Chef. Besonders in Dienstleistungsbereichen wie dem Gaststättengewerbe oder bei Taxibetrieben sei mit einer Zunahme der Schattenwirtschaft zu rechnen. In Belgien, wo der Mindestlohn bei neun Euro liegt, versuche der Staat derzeit, dem Problem mit schärferen Kontrollen und bürokratischen Vorschriften Herr zu werden, was aber nur begrenzt Erfolg haben dürfte. „Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass die Bevölkerung die niedrigen Löhne in der Schwarzarbeit akzeptiert, aber Niedriglöhne in der regulären Beschäftigung skandalisiert“, so Schneider.

Den Gewerkschaften bescheinigt der Wirtschaftswissenschaftler ein strategisches Eigeninteresse, wenn sie sich für Mindestlöhne einsetzten: „Für sie ist das treibende Argument die Angebotsverknappung. Wenn Minijobber durch hohe Zugangshürden dauerhaft vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, wird Arbeitskraft knapper.“ Es gehe den Gewerkschaften somit darum, die eigene Verhandlungsmacht zu stärken – auch um den Preis einer höheren Erwerbslosigkeit. Doch Schneider bezweifelt, dass diese Rechnung aufgeht. Weil die Wirtschaft auf den Lohnkostenanstieg mit Arbeitsplatzverlagerungen und Rationalisierungen reagiere, werde die bessere Verhandlungsposition nicht erreicht. „Am Ende geht es allen schlechter.“

Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Politik über den Mindestlohn entscheide und negative Beschäftigungswirkungen insbesondere für junge Menschen unübersehbar seien, gelinge es in Großbritannien der dort zuständigen unabhängigen und mit Experten besetzten Low Pay Commission, „den ‚bite‘ des Mindestlohns nicht zu groß werden zu lassen“, so Schneider. Für Deutschland befürchtet er indes, dass das geplante Verfahren nicht so gut funktionieren wird wie das englische Modell. Zum einen sei schon im Wahlkampf stets eine feste Mindestlohnhöhe versprochen worden. Zum anderen soll die hiesige Kommission von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden besetzt werden. „Diese repräsentieren in erster Linie die Interessen der Großunternehmen, und sie werden versuchen, sich durch einen möglichst hohen Mindestlohn die Konkurrenz der Kleinen vom Leib zu halten“, prophezeit der Ökonom. Dass Gewerkschaften und Arbeitgeber hier durchaus ein gemeinsames Interesse verfolgen, habe sich in Deutschland nach der Wiedervereinigung gezeigt, als man mit einer überzogenen Lohnpolitik verhindert habe, dass sich eine aufstrebende ostdeutsche Wirtschaft etablieren konnte.