Höchstes Gericht soll die Politik zwingen, grundlegende Reformen zu beschließen

München/Berlin. Der Sozialverband VdK will beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen „grundrechtswidrige Zustände“ im deutschen Pflegesystem klagen. Verbandspräsidentin Ulrike Mascher sagte der „Süddeutschen Zeitung“, mittels der Verfassungsbeschwerde solle ein „gesetzgeberisches Unterlassen“ gerügt und die Politik gezwungen werden, grundlegende Reformen endlich umzusetzen.

Zwanzig Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung plant die schwarz-rote Bundesregierung zwar eine große Pflegereform. Mascher traut aber den Ankündigungen der Politik nicht mehr: Die Missstände seien seit vielen Jahren bekannt und von diversen Expertenbeiräten der Bundesregierung analysiert und kritisiert worden. Gleichwohl sei eine Pflegereform ausgeblieben, sagte die VdK-Präsidentin. Es gebe eine „Pflege-Verschleppungspolitik“. Im Interesse von Millionen alten, dementen und pflegebedürftigen Menschen könne man diesem Versagen nicht weiter zuschauen.

Ziel der Klage sei es, dass die Menschen in Deutschland künftig „in Würde altern können“, sagte Mascher. Per Verfassungsklage sollten grundlegende Verbesserungen auch für Demenzkranke erreicht werden. Rund 1,4 Millionen Demenzkranke in Deutschland erhalten derzeit nur geringe Leistungen aus der Pflegeversicherung. Auch die häusliche Pflege soll laut VdK stärker gefördert werden. Der Verband will mit zehn Musterklägern nach Karlsruhe ziehen. Die Beschwerdeführer stünden noch nicht fest, sagte die Sprecherin des Verbandes, Cornelia Jurrmann. Es sei geplant, die Klage im Juli oder August einzureichen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht von „politischer Notwehr“

Der Paritätische Wohlfahrtsverband begrüßte den Vorstoß. Joachim Rock, Verfasser des verbandseigenen Sozialberichts, sagte, die Klage sei „ein Akt der politischen Notwehr“. Auch in der Vergangenheit seien Sozialgesetze mehrfach durch Gerichtsurteile erzwungen worden.

Üblicherweise wird in Karlsruhe gegen ein bestehendes Gesetz geklagt. In diesem Fall soll nun ein neues, grundrechtsschützendes Gesetz eingeklagt werden. Die Verfassungsbeschwerde ist ein unübliches Mittel, um ein Handeln des Gesetzgebers zu erzwingen. In der juristischen Fachwelt ist dieser Weg umstritten.

Bereits im vergangenen Jahr hatte eine Dissertation aus Regensburg in der Pflegebranche für Aufsehen gesorgt. Die Juristin Sabine Moritz kommt darin zu dem Ergebnis, Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht seien Erfolg versprechend, weil der vom Staat verursachte Pflegenotstand die Menschenwürde von Heimbewohnern systematisch verletze. Karlsruhe habe in früheren Urteilen mehrfach anerkannt, dass dem Gesetzgeber Schutzpflichten aus den Grundrechten erwachsen und diese konkretisiert.

Das Bundesgesundheitsministerium wies die Kritik an den Zuständen in deutschen Pflegeheimen zurück. Eine Ministeriumssprecherin kritisierte die geplante Verfassungsbeschwerde; der Verband zeichne ein „unzutreffendes Negativbild“. Von menschenunwürdigen Zuständen könne keine Rede sein. Es gebe höchstens Einzelfälle, die aber verfolgt würden.