Nervosität am Bundesverfassungsgericht: Will die Politik seinen Einfluss stutzen?

Berlin. Kritik aus dem politischen Berlin, diesen Anschein suchen die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu erwecken, nehmen wir nicht persönlich. Gab es doch schon immer, war früher sogar heftiger, so heißt es mit Verweis auf die SPD-Fraktionschef Herbert Wehner zugeschriebene Beschimpfung der „Arschlöcher in Karlsruhe“ aus dem Jahr 1973. Tatsächlich gehört Urteilsschelte zur Geschichte des Gerichts. Aber in den vergangenen Monaten wurde nicht nur über eine vereinzelte Entscheidung diskutiert, sondern über eine ganze Serie. Mal ging es um die Homo-Ehe, mal um die Euro-Rettung, mal um die Dreiprozentklausel für die Europawahlen. Die Kritik kam dabei aus den verschiedensten Ecken. Immer aber drehte sie sich um den zentralen Vorwurf, dass Karlsruhe seine Kompetenzen überschreite. Fürchten muss Karlsruhe vor allem die Reaktionen aus Berlin. In der Hauptstadt herrscht nicht irgendeine Regierung, sondern eine Große Koalition, die über eine 80-Prozent-Mehrheit im Bundestag verfügt. Damit lässt sich das Grundgesetz ändern – also auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts.

Vor allem der konservative Teil der Großen Koalition übt sich in Gedankenspielen, die sich mit der Frage befassen: Lassen sich dem Bundesverfassungsgericht Fesseln anlegen? Da trifft sich Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit einer Schar von Staatsrechtslehrern, um über Möglichkeiten zu reden, wie man den Einfluss des Gerichts zurechtstutzen könnte. Das Brainstorming hatte es in sich, heikle Fragen kamen auf den Tisch: Sollte man die zwölfjährige Amtszeit der Verfassungsrichter verkürzen? Könnte eine Wiederwahloption störrische Richter disziplinieren? Sollten Gesetze nur noch mit Zweidrittelmehrheit im Senat gekippt werden können? Dann kommt ein Gesprächskreis von Unionsabgeordneten um Fraktionschef Volker Kauder (CDU) zusammen. Aus der vertraulichen Runde sickerte die Erkenntnis durch, dass man künftig stärker auf die Auswahl der Kandidaten für die Richterposten achten müsse.

Ende April endet die Amtszeit der Richterin Gertrude Lübbe-Wolff im Zweiten Senat, die SPD hat das Vorschlagsrecht für die Nachfolge. Laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wollen die Sozialdemokraten die Hamburger Völkerrechtlerin Doris König nominieren. Im Umfeld der Verfassungsrichter hat das bereits lebhafte Diskussionen ausgelöst: Hat sich die Kandidatin nicht vor allem mit Seerecht befasst, das in Karlsruhe eher selten gebraucht wird? Wollte die SPD nicht eigentlich die Frankfurter Staatsrechtlerin Ute Sacksofsky vorschlagen? Hat die Union deren Kür verhindert? Ist das schon Ausfluss der Ankündigung, künftig stärker auf die Auswahl der Richter zu achten?

Nun sind solche Debatten nichts Neues, die beiden großen Parteien haben schon des Öfteren um die Kandidaten gerungen. So kam der aktuelle Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle nur deshalb ins Amt, weil die Union den ersten SPD-Vorschlag ablehnte. Offiziell verfolgt die Große Koalition bislang nur einen schon länger auf dem Tisch liegenden Reformplan: Die vom Bundestag zu ernennenden Verfassungsrichter sollen künftig nicht mehr durch den im Verborgenen tagenden Richterwahlausschuss bestimmt, sondern im Plenum des Parlaments gewählt werden. „Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, weil wir damit den Vorwurf entkräften, die höchsten deutschen Richter würden in einem Geheimgremium ausgekungelt“, sagte Eva Högl, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD und Mitglied des Richterwahlausschusses.

In Karlsruhe kursierende Befürchtungen, das sei nur der Auftakt zu einer öffentlichen Aussprache über die Kandidaten und ihre Haltung zu diversen gesellschaftlichen Streitthemen, sucht Högl zu zerstreuen: „Eine öffentliche Anhörung der Kandidaten wäre kontraproduktiv. Wir wollen mehr Transparenz, aber keine Politisierung der Richterwahl.“ Nachdenken, so die promovierte Juristin, könne man allenfalls noch über die ausgewogene Zusammensetzung des Gerichts. „Alle juristischen Berufsgruppen sollten in Karlsruhe vertreten sein und ihren Sachverstand einbringen – auch die Anwaltschaft, die derzeit nicht repräsentiert ist.“ Derzeit sind nur Professoren, Berufsrichter und ehemalige Politiker in den beiden Senaten vertreten.

Allen weiteren Gedankenspielen des Koalitionspartners allerdings erteilt die SPD eine deutliche Absage. „Grundsätzliche Änderungen an der Struktur des Gerichts oder seinen Kompetenzen kommen überhaupt nicht infrage“, sagte Högl. „Alles, was die Unabhängigkeit der Richter einschränken könnte, lehne ich entschieden ab.“ Denn bei allen Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen gelte doch: „Das Bundesverfassungsgericht leistet eine fantastische Arbeit.“ Ob dieses überschwängliche Lob die Nervosität in Karlsruhe dämpft?

Immerhin scheint sich sogar der als Ausbund an Gelassenheit geltende Gerichtspräsident Voßkuhle Sorgen zu machen. Diesen Schluss lässt jedenfalls eine Laudatio zu, die der Theologe Friedrich Wilhelm Graf anlässlich der Verleihung des Cicero-Rednerpreises an Voßkuhle hielt. Graf beklagte den „Erregungsgrad mancher Berliner Politiker über die von ihnen subjektiv erlittene Karlsruher Selbstherrlichkeit und Machtfülle“. Nicht wenige politische Akteure seien „durchaus daran interessiert, den öffentlichen Wirkungsraum der Karlsruher Richter einzuengen“. Graf bekannte, ein „Freund“ Voßkuhles zu sein, man pflege, in dessen Küche gemeinsam zu kochen.

Da liegt der Gedanke nicht fern, dass die Generalkritik des Laudators an der Politik auch beim Pilzeputzen, Bohnenschnippeln und Dressingrühren schon einmal zur Sprache gekommen ist – und vom Hausherrn nicht widerlegt wurde.