Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft klagt über raue Sitten und Intrigen auch in der sozialdemokratischen Bundespolitik. So wie im Fall Kurt Beck. Kritik von Genossen.

Ahlsdorf. Eigentlich wollte sich Hannelore Kraft am Schwielowsee erholen. Zu einer Klausurtagung hatte die SPD-Spitze vor knapp sechs Jahren in die Havellandschaft bei Potsdam geladen. Am Tag zuvor bezog Kraft, begleitet von Ehemann und Hund, ein Zimmer im Hotel. Immerhin einige Stunden lang konnte die nordrhein-westfälische Oppositionsführerin ausspannen. Es entging Kraft, als der „Spiegel“ an jenem Abend im Spätsommer 2008 meldete, die SPD-Kanzlerkandidatur sei zugunsten von Außenminister Frank-Walter Steinmeier entschieden – also noch bevor der Verzicht des Parteivorsitzenden Kurt Beck öffentlich gemacht worden war.

Erst am folgenden Vormittag erfuhr Kraft von dem parteiinternen Zoff. „Mir war gleich klar: Kurt Beck macht unter diesen Umständen nicht weiter“, sagte Kraft am Freitag vergangener Woche während einer SPD-Wahlveranstaltung in Ahlsdorf (Sachsen-Anhalt). Genauso kam es. Beck ließ den SPD-Vorstand wissen, er trete als Parteichef zurück. „Das war für mich der schwärzeste Moment in der Parteigeschichte. Ich möchte, dass so etwas nie wieder passiert“, sagte Kraft. Ausführlich schilderte die Düsseldorfer Regierungschefin beim „Frühjahrsgipfel“ des SPD-Ortsvereins Ahlsdorf die Umstände von Becks bundespolitischer Karriere. Der Moderator, Sachsen-Anhalts Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD), wollte wissen, ob sich ein solcher Vorgang wiederholen könne. „Man muss damit rechnen“, antwortete Kraft und formulierte eine These über die berüchtigten Parteifreunde: „Wenn mich einer bekämpft, dann in der Regel die eigenen Leute.“ Kraft stilisiert den Schwielowsee zu einem immerwährenden Trauma der Sozialdemokratie – wo doch die meisten in der Partei längst die Auffassung vertreten, sie seien mit Beck einst zu hart umgegangen.

Kraft aber führt den Schwielowsee an, um die an sie geknüpften Erwartungen und Hoffnungen zu zerstreuen. Fast unmittelbar nach ihrer Wahl zur NRW-Ministerpräsidentin vor vier Jahren war Kraft als mögliche Kanzlerkandidatin der SPD gehandelt worden. Zeitig vor der Bundestagswahl 2013 lehnte sie diese Aufgabe ab, und inmitten der Berliner Koalitionsverhandlungen im November schloss sie diese Funktion gar für immer aus. „Nie, nie“ werde sie Kanzlerkandidatin, sagte Kraft in einer Sitzung der SPD-Landtagsfraktion in Düsseldorf. Selbst ihr wohlgesonnene Parteifreunde schütteln über diese Festlegung bis heute den Kopf. Muss nicht der Regierungschef des 18-Millionen-Landes NRW prinzipiell bereit sein, das mächtigste Amt im Staate ausüben zu können – und zu wollen? Krafts Vorgänger – ob Johannes Rau, Wolfgang Clement, Peer Steinbrück oder Jürgen Rüttgers – hätten einen solchen Verzicht nie formuliert. Krafts Vorbild Rau hatte sogar 1986/87, also während seiner Regentschaft in Düsseldorf, die SPD-Kanzlerkandidatur übernommen.

Erstmals schilderte Kraft jetzt die Gründe, nicht nach Berlin zu wechseln. „Die Art und Weise, wie in Berlin Politik gemacht wird, ist nicht so, wie ich gern Politik mache“, sagte Kraft. „Ich brauche die Menschen. Ich kann bei mir noch einkaufen gehen. Ich kann nah bei den Menschen sein. Meine Stärke ist nicht, bei irgendwelchen G20-Runden in Europa am Tisch zu sitzen. Das ist nicht mein Ding. Ich will konkret an Verbesserungen arbeiten. Dafür bin ich in die Politik gegangen, und das mache ich jetzt.“ Noch viel wichtiger aber war Hannelore Kraft an diesem Abend eine andere Botschaft: „Ich bin nicht abhängig von Politik. Ich hab was Ordentliches gelernt. Ich könnte auch wieder zurück in die Wirtschaft. Das gibt eine Menge Freiheit. Ich hab keine Leichen im Keller. Mir kann keiner was. Ich sage meine Meinung, so wie sie ist. Das hat in den Koalitionsverhandlungen auch nicht jedem gefallen.“ Kraft spielte damit auf ihr zerrüttetes Verhältnis zu Gabriel und ihre – seit der Bundestagswahl ziemlich erkaltete – Beziehung zu Frank-Walter Steinmeier an. Deren beider Namen erwähnte sie natürlich nicht. „Ich hab zu Hause einen Spiegel hängen, ich möchte Politik so machen, dass ich den Spiegel nicht zuhängen muss.“

Kritik an Kraft-Schelte

Krafts Darstellung der Landespolitik als ehrlich und bodenständig – und der Bundespolitik als intrigant und brutal stößt in der SPD naturgemäß auf Widerspruch. „Die SPD pflegt seit geraumer Zeit einen guten Stil miteinander. Intrigen erlebe ich nicht öfter als in anderen gesellschaftlichen Gruppen“, sagte Elke Ferner von der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen. „Gerade Sigmar Gabriel agiert mit offenem Visier. Die Zeiten, in denen Umfelder bestimmter Kollegen hinten herum Dinge gestreut haben, sind vorbei.“

Ferner kritisierte Krafts Worte, wonach in Berlin mit härteren Bandagen gekämpft werde als in der Landespolitik: „Natürlich geht es in der Politik manchmal hart zur Sache. Ob das aber nur für die Bundespolitik gilt, bezweifle ich. Interne Auseinandersetzungen gibt es auch in den Ländern.“ Sie bedauerte Krafts Entscheidung, nicht Kanzlerkandidatin der SPD werden zu wollen. „Wenn Hannelore Kraft sich entschieden hat, in NRW zu bleiben, ist das zwar bedauerlich. Aber natürlich akzeptiert die SPD ihre Haltung.“

Unerklärlich seien Krafts Äußerungen, heißt es unter SPD-Bundespolitikern. „Wir stehen alle etwas ratlos da“, sagt einer von ihnen, der nicht genannt werden will. Von „Befindlichkeiten“ und „Larmoyanz“ ist die Rede. Womöglich habe sich Kraft mehr Geld des Bundes für ihre finanziell klammen Kommunen erhofft, heißt es.