Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz kämpft für die doppelte Staatsbürgerschaft. Doch der Widerstand der Union kann der Hamburgerin den Auftakt im Amt verhageln

Berlin. Wer verstehen will, warum es alles auch hätte leichter sein können für Aydan Özoguz in diesen ersten Wochen im Kanzleramt, der muss zurückblicken auf die Morgenstunden des 27. November. Mehr als 15 Stunden hat ein enger Kreis um die drei Parteichefs von CDU, CSU und SPD in Berlin schon um die kritischen Punkte im Koalitionsvertrag gerungen. Pkw-Maut, Rente mit 63, Steuern, all das soll schon durch gewesen sein. Ganz zuletzt diskutierten Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel über die Pläne zur doppelten Staatsbürgerschaft. „Stunden und Stunden war schon darüber gestritten worden“, sagt ein CDU-Politiker heute.

Auch Aydan Özoguz war an dem Morgen noch wach und wartete ungeduldig auf ein Ergebnis. Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft hatte die Hamburger SPD-Politikerin und Bundes-Vize zur Bedingung für eine Koalition mit der Union erklärt. Die Optionspflicht, nach der sich in Deutschland geborene Ausländer im Alter zwischen 18 und 23 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, sei ein „integrationspolitisches Debakel“, hatte sie gesagt. Özoguz hatte damals schon viele Verhandlungssitzungen lang um ihr Ziel gerungen hatte, dass sich dieses „Debakel“ nicht fortsetzt.

Mehr als drei Monate später sitzt Özoguz gemeinsam mit zwei Dutzend Hauptstadt-Journalisten an einem runden Tisch im Kanzleramt. An der Wand hängt ein Ölgemälde von Konrad Adenauer, die Türen sind aus hellem Holz. Hier im Kanzleramt belegt Özoguz als neue Staatsministerin mit ihren Beamten mehrere Büros. Die 46 Jahre alte SPD-Frau ist Hamburgs mächtigste Politikerin im Bund und verantwortlich für die Integrationspolitik der Regierung. Özoguz hat es weit gebracht. An diesem Morgen sagt sie zu den Reportern: „Wir stehen wieder bei null.“ Es läuft nicht alles nach Plan für sie.

Auf Seite 105 des Koalitionsvertrags steht der Satz, um den sich nun Union und SPD streiten. Am Morgen des 27. November landete er im Regierungsprogramm: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang, und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.“ SPD-Chef Gabriel jubelte damals, nannte den Kompromiss zum Doppelpass einen „Tabubruch“. Schon damals aber zeigte sich die Türkische Gemeinde enttäuscht, die SPD „habe nicht Wort gehalten“. Für alle, die nicht in Deutschland geboren sind, bleibt es dabei: Sie sind weiter Ausländer. Immerhin, der Optionszwang schien vom Tisch. Doch das war nur der Anfang der Debatte.

Seit 36 Jahren gibt es das Amt des Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration schon. Zuletzt saß die CDU-Politikerin Maria Böhmer in dem Büro, in dem nun Özoguz arbeitet. Ihre Tochter hat ein kleines Glücksschwein gebastelt, es steht auf ihrem Schreibtisch. Wenn sie auf den Balkon geht, schaut sie auf den Reichstag.

Anfang der 60er waren ihre Eltern aus der Türkei nach Hamburg ausgewandert. Nach der Schule studierte Özoguz, arbeitete dann bei der Körber-Stiftung, bis Olaf Scholz sie in die SPD holte. Heute ist sie die erste Politikerin mit einer türkischen Familiengeschichte im Kabinett. Auch das hebt die Ansprüche vieler Türken an ihre Amtszeit. Aydan Özoguz kann viel gewinnen als Staatsministerin. Sie kann aber auch viel verlieren. Und ein Erfolg hängt für Özoguz derzeit vor allem an einem Wort: Was heißt „aufgewachsen“? Das CDU-geführte Innenministerium will die im Koalitionsvertrag zur Optionspflicht festgelegte Passage gesetzlich so ausgestalten, dass Kinder von Einwanderern mindestens zwölf Jahre in Deutschland gelebt oder einen Schulabschluss haben müssen, damit sie den Doppelpass bekommen. Es geht vor allem um Deutsche mit einer türkischen Familiengeschichte. EU-Bürger und viele andere Staatsangehörige können längst beide Pässe behalten. Die Union, sagt CSU-Chef Seehofer, wolle die deutsche Staatsbürgerschaft nicht „verscherbeln“ – und erhöht die Hürden. Die Sprachregelung lautet dort nun: Es gelte der Koalitionsvertrag, und da stehe nun mal der Passus „geboren und aufgewachsen“. Für die SPD wäre es ein Rückschlag. Gabriels angekündigter „Tabubruch“ wankt.

Gerade hatte Aydan Özoguz an diesem Dienstag eine Schulklasse aus Farmsen zu Besuch, nun ist sie unterwegs zu einer Volkshochschule im Wedding. Menschen aus 44 Nationen bekommen ihre Zeugnisse, sie haben den Integrationskurs bestanden. Gestern und heute ist Özoguz Gast auf der Konferenz aller Integrationsminister der Länder in Magdeburg. Sie wollen Deutschland zu einer „Willkommensgesellschaft“ entwickeln.

Für Özoguz gehe es nicht mehr nur um eine Willkommenskultur. „Wer Eltern aus der Türkei oder Polen hat, aber hier geboren ist, braucht eine Anerkennungskultur, eine Teilhabekultur.“ Özoguz sagt, Integrationspolitik habe viel mit Bauchgefühl zu tun. Sie wolle das mit ihrer eigenen Geschichte und mit ihren Begegnungen für die Menschen in Deutschland „fühlbar“ machen.

Im Streit mit der Union geht es um Gesetze, nicht um Gefühle. Özoguz hält wenig vom CDU-Gesetzentwurf zur Optionspflicht. Was die Union vorschlage, bedeute „kaum zu bewältigende Kosten für die Kommunen“, sagte Özoguz unlängst. Wenn die Behörde bei jedem Migranten prüfe, ob er oder sie in Deutschland „aufgewachsen“ sei, koste das Personal und Zeit. „Ohne Nutzen“, sagt Özoguz. Auch drei rot-grün regierte Bundesländer drohen mit einer Ablehnung des CDU-Vorstoßes im Bundesrat. Optionszwang grenze aus, sagen sie. Bei dem einen Schüler hänge die deutsche Staatsbürgerschaft dann am Schulabschluss, beim anderen nicht. Wer es ernst meine im Kampf gegen Fachkräftemangel, müsse es auch mit der Willkommenskultur ernst meinen.

Man kann es sich einfach machen als Integrationsbeauftragte – Moscheen einweihen, Sprachkurse besuchen oder Flüchtlingsunterkünfte. Özoguz’ CDU-Vorgängerin galt vielen als konfliktscheu. Özoguz mischt sich ein. In der Union loben viele ihre angenehme Art und die Kompetenz. „Man merkt, sie passt in das Amt“, sagt ein CDU-Abgeordneter. Aber ihre Positionen seien weit entfernt von den Vorstellungen der Union, sagt ein anderer. Innerhalb der CDU hatte es Druck gegeben. Die Option auf die deutsche Staatsangehörigkeit ist vielen schon Kompromiss genug. Unionspolitiker fürchten keine klare Loyalität mit Deutschland, sobald jemand zwei Pässe besitzt. Der Doppelpass sei Eintritt in zwei Arbeitsmärkte, zwei Sozialsysteme.

Auch in der SPD herrscht nun Unzufriedenheit, weil niemand mehr mit dem Ärger um „das Kleingedruckte“ im Koalitionsvertrag gerechnet hatte. „Der Optionszwang muss fallen, ohne Wenn und Aber“, sagt der Hamburger SPD-Integrationspolitiker Kazim Abaci.

Der Druck aus der eigenen Partei wächst. Und aus der Opposition. Die Grünen kritisieren das „heillose Durcheinander“ bei Schwarz-Rot in der Frage. Bleibe es bei der Optionspflicht, wie die Union es wolle, sei das ein „Schlag ins Gesicht der Migranten“, sagt eine Hamburger Grünen-Politikerin.

Führende Sozialdemokraten sehen nur eine Lösung: Die Beweislast müsse umgekehrt werden, sodass die Behörden nur in Ausnahmen die mit der Geburt vergebene doppelte Staatsbürgerschaft aberkennen können. Zudem dürfe die Zeit, die ein Jugendlicher in Deutschland verbracht haben muss, acht Jahre nicht überschreiten. Für Özoguz und die SPD tickt die Uhr. Jährlich erreichen zwischen 4000 und 6000 Jugendliche das optionspflichtige Alter. Solange das Gesetz so bleibt, stehen sie weiter vor der Wahl der Staatsbürgerschaft. Trotz einer Staatsministerin mit eigener Zuwanderergeschichte.