Kanzlerin geht in Regierungserklärung zur Ukraine auf Distanz zu Gerhard Schröder. Situation der Krim sei mit dem Kosovo nicht zu vergleichen

Berlin. Als Angela Merkel nach einem Skiunfall im Weihnachtsurlaub von den Ärzten erfuhr, dass sie zur Genesung viele Stunden am Tag werde liegen müssen, beschloss sie, ihr Leben zu ändern. Konkret wollte sie zwei Dinge tun, die sie schon länger vorgehabt hatte: erstens weniger essen. Und, zweitens, mehr lesen. Sie mied also ein paar Wochen lang zu viel Fleisch, Süßes und Alkohol und las Christopher Clarks langes Opus über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, „Die Schlafwandler“. Das Ergebnis dieser ungewöhnlichen Diät war im Bundestag zu erleben. Schlanker als im vergangenen Jahr tritt Merkel zu ihrer Regierungserklärung ans Pult des Bundestages und spricht zuerst über den Ersten Weltkrieg. Diese sei die „erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen, dem quasi folgerichtig, der Zweite Weltkrieg folgte, und dann „der Zivilisationsbruch, die Schoah“.

Merkel greift damit ein Gefühl auf, das – just an diesem Tag veröffentlichte Umfragen belegen dies – in der deutschen Bevölkerung verbreitet ist: Da der Konflikt mit Russland an Urängsten rührt, soll er am besten ganz unterbleiben. Doch Merkel will woanders hin. Ein „Konflikt wie im 19. oder 20. Jahrhundert“ werde um die Krim geführt, „ein Konflikt, den wir für überwunden gehalten haben. Aber offensichtlich ist er nicht überwunden“. Dann zitiert sie, in einem für eine Regierungserklärung sehr ungewöhnlichen Stilmittel, ohne jede Wertung drei Nachrichten aus den vergangenen Tagen von der Krim und folgert: „Es ist offenkundig, die territoriale Einheit und damit die staatliche Souveränität der Ukraine werden ganz offen infrage gestellt und verletzt.“

Das ist kühl, aber deutlich. Und Merkel wird noch deutlicher. Moskau habe sich „nicht als Partner“ erwiesen: „Das Recht des Stärkeren wird über die Stärke des Rechts gestellt.“ Dann geht sie – auch das sehr ungewöhnlich – in einer „Nebenbemerkung“ auf Distanz zu ihrem Vorgänger. Gerhard Schröder, dessen Namen Merkel nicht in den Mund nimmt, hatte die Annexion der Krim mit dem Eingreifen der Nato im Kosovo verglichen. Merkel erinnert an die (an Russland) gescheiterten Bemühungen, die Krise damals diplomatisch zu lösen, an die „ethnischen Säuberungskriege“, die abgewendet werden mussten, und schließt: „Die Situation damals ist in keiner Weise mit der in der Ukraine vergleichbar.“ Der Vergleich sei sogar „beschämend“. Die SPD-Fraktion klatscht geschlossen und laut. Der Unmut unter den Genossen über Schröder muss sehr groß sein.

Merkel entwirft nun eine Skizze ihrer Ukraine-Politik: „Militärisches Vorgehen ist keine Option“, beginnt sie. Es gehe um einen „politisch-diplomatischen Weg aus der Krise“, einen „politisch-ökonomischen Dreiklang“. Damit meint sie die Androhung von Sanktionen in mehreren Stufen, als Reaktion auf eine mögliche, ja wahrscheinliche weitere Eskalation in der Ukraine. Doch Merkel legt auch Grundsätze fest: „Die territoriale Integrität der Ukraine steht nicht zur Disposition“, was mutig ist, denn eigentlich rechnet niemand mehr damit, dass Moskau die Krim noch einmal hergibt. Und – überraschend – auch Moldau und Georgien „gebührt unsere Solidarität“. Aus diesen Ländern hat Moskau ebenfalls prorussische Provinzen mit Gewalt herausgebrochen. Dass Merkel daran erinnert, zeigt, dass sie die Ukraine nicht für einen Betriebsunfall hält, sondern Putins Außenpolitik für strukturell inakzeptabel.

Wer genau hinhört, merkt, dass auch Merkel nur noch hofft, dass die Russen nach der Annexion der Krim zur Vernunft kommen. Sie stellt der dann verbleibenden (Rest-)Ukraine Hilfen in Aussicht: das Vorziehen von Handelserleichterungen, Hilfe bei der „Diversifizierung von Energiequellen“, also Alternativen zum russischen Gas. Der politische Teil des EU-Assoziierungsabkommens soll „sehr bald“ in Kraft gesetzt werden. Wirklich schmerzhafte Sanktionen kündigt Merkel allerdings erst für den Fall an, dass Moskau auch noch nach der Ostukraine greift: „Wenn Russland seinen Kurs fortsetzt, wäre das nicht nur eine Katastrophe für die Ukraine, sondern auch für Russland.“

Merkel dankt ausdrücklich Frank-Walter Steinmeier, ihrem sozialdemokratischen Außenminister. Am Ende erinnert Merkel noch einmal an ihr Ausgangsargument, man könne Konflikte heute nicht mehr „wie im 19. und 20. Jahrhundert“ lösen, sondern nur noch „mit den Mitteln unserer Zeit“. Das Argument hat die logische Schwäche, dass völkerrechtswidrige Annexionen auch vor der Jahrtausendwende mitnichten die Regel waren, noch Zeichen besonderer Regierungskunst. Aber Merkel will damit wohl eine für Putin akzeptable Erzählung vorbereiten: der Verzicht auf die Einverleibung der Krim, nicht aus Schwäche, sondern aus Modernität.

Interessant ist, wie sich diejenigen in der Debatte äußern, die in der Vergangenheit aus rationalem Kalkül auf eine Annäherung an Russland setzten. Rolf Mützenich von der SPD etwa gibt zu: „Für diejenigen, die immer auch die Interessen Russlands in ihre Arbeit einbezogen haben, waren die letzten Tage ein herber Rückschlag.“ Auch Gernot Erler, Koordinator der Russlandpolitik der Bundesregierung, wählt nachdenkliche Töne: „Bruchlinien, die wir nicht mehr für möglich gehalten haben“, konzediert der Sozialdemokrat. Die von Putin angestrebte Grenzänderung sei ein „gefährlicher Tabubruch“. Fast ist es, als spreche ein zerknirschter Erler gar nicht zum Bundestag, sondern vor russischen Abgeordneten: Zwei „verlustreiche Kriege“ habe Russland geführt, „um die Sezession“ von Tschetschenien zu verhindern. „Wollen unsere Kollegen in der Duma jetzt wirklich einen Präzedenzfall schaffen? Ist das wirklich eine vernünftige Vertretung russischer Interessen?“

Die Konfliktparteien demonstrierten ungeachtet aller internationalen Mahnungen und Debatten Entschlossenheit. Die Ukraine beschloss den Aufbau einer Nationalgarde mit bis zu 60.000 Mann. Russland ließ für Manöver 12.500 Soldaten aufmarschieren und entsendet weitere Militärflugzeuge nach Weißrussland.