Stellvertretend für viele Mutige ehrt die Deutsche Nationalstiftung in diesem Jahr Christian Führer, Christoph Wonneberger und Uwe Schwabe

Hamburg. Mit einer solchen Menschenmenge hatte die SED nicht gerechnet. Allen Einschüchterungen zum Trotz machten sich etwa 70.000 Menschen am frühen Abend des 9. Oktober 1989 auf, um nach den Friedensgebeten in sechs Kirchen über den Leipziger Ring zu demonstrieren. Niemand wusste damals, ob die Staatsmacht das Volk auf der Straße zusammenschießen würde, wie es noch vier Monate zuvor auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens geschehen war. Die Leipziger Montagsdemonstranten hätten auch das in Kauf genommen, sie waren gewaltlos, aber entschlossen. „Wir sind das Volk!“, riefen sie in dieser Nacht, in der die Funktionäre der SED und die Kommandeure von Volkspolizei und Stasi begriffen, dass sie diese Bewegung nur noch mit einem beispiellosen Blutbad hätte aufhalten können. Ein einziger Schuss hätte damals wahrscheinlich eine Katastrophe ausgelöst, deren Folgen sich gar nicht abschätzen ließen. Dafür wollte am Ende niemand die Verantwortung übernehmen.

Am Dienstag teilte die Deutsche Nationalstiftung in Hamburg mit, dass die Leipziger Montagsdemonstrationen in Erinnerung an die friedliche Revolution und den Fall der Mauer vor 25 Jahren mit dem Deutschen Nationalpreis 2014 ausgezeichnet werden. „Man darf die Montagsdemonstrationen nicht von ihrem erfolgreichen Ende her denken oder mit den grundgesetzlich verbürgten Demonstrationen in unserer Demokratie vergleichen“, sagte Dirk Reimers, der geschäftsführende Vorstand der Deutschen Nationalstiftung, die sich dazu entschlossen hat, den mit 60.000 dotierten Preis stellvertretend an drei besonders wichtige Repräsentanten der friedlichen Revolution in der DDR und eine Institution zu vergeben.

Mit jeweils 10.000 Euro werden die Pfarrer Christian Führer (damals Nikolaikirche) und Christoph Wonneberger (damals Lukaskirche) sowie der Bürgerrechtler Uwe Schwabe ausgezeichnet, der zu den wichtigsten Organisatoren der Montagsdemos gehörte. Weitere 30.000 Euro erhält das bereits 1988 von Schwabe gegründete Archiv Bürgerbewegung Leipzig, in dem bis heute die wichtigsten Dokumente der friedlichen Revolution aufbewahrt, erschlossen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Christian Führer, 71, ist als Pfarrer der Nikolaikirche zur international bekannten Symbolfigur der Friedensgebete geworden. Durch den Auftrag zur christlichen Verkündigung motiviert, öffnete er den schützenden Raum von St. Nikolai auch kirchenfernen Menschen, die sich mit den Zuständen in der DDR nicht abfinden wollen.

Während sich Führer um eine Vermittlung zwischen der unter dem enormen Druck der staatlichen Stellen stehenden Amtskirche und den seit 1988 immer entschlossener auftretenden Angehörigen der Basisgruppen bemühte, durchbrach Christoph Wonneberger, 70, die Kompromisslinie der evangelischen Kirche, woraufhin ihm die Kirchenleitung 1988 die Koordinierung der Friedensgebete entzog. Da Wonneberger am 30. Oktober 1989 einen Schlaganfall erlitt und jahrelang an dessen Folgen zu tragen hatte, trat er später lange nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Erst jetzt beleuchtet die von Andreas Pausch im Metropol Verlag Berlin erschienene Biografie „Widerstehen. Pfarrer Christoph Wonneberger“, die auf der heute beginnenden Leipziger Buchmesse Premiere hat, die Rolle dieses wichtigen Pfarrers und Bürgerrechtlers.

Auf der Liste jener „Staatsfeinde“, die die Stasi bei der Niederschlagung der Konterrevolution in Leipzig deportieren wollte, war Christoph Wonneberger die Nummer drei. An erster Stelle stand der Mechaniker und Krankenpfleger Uwe Schwabe, 52, den die Stasi schon seit Jahren im Visier hatte. Schwabe war Mitglied der Arbeitsgruppe Menschenrechte und gründete die Initiativgruppe Leben. Er organisierte zahlreiche Aktionen, druckte Flugblätter und bemühte sich immer wieder darum, die Anliegen der Bürgerrechtler an die Öffentlichkeit zu bringen.

„Die drei Preisträger rühren und berühren mich in zweifacher Hinsicht: Sie haben gezeigt, was der Einzelne imstande ist zu tun; sie haben den Beweis erbracht, das jeder Mensch Geschichte schreiben kann. Und sie sind alle drei zu Menschen geworden, die uns wichtige Impulse geben, die wir um Rat fragen können und die klar zu ihrer Meinung stehen“, sagte Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, der die Auszeichnung auch als große Ehre für die Stadt Leipzig wertet.

Verliehen wird der Preis im Rahmen einer Festveranstaltung am 24. Juni in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin. Die Laudatio hält der evangelische Theologe und Philosoph Richard Schröder, der auch Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung ist. „Der Mauerfall am 9. November prägt für Westdeutsche den Herbst 1989, weil da die Trabis kamen. Dieses wunderbare Ereignis überstrahlt aber zu Unrecht den 9. Oktober, ohne den es die plötzliche Maueröffnung nicht gegeben hätte“, sagt Schröder, und fügt hinzu: „Nicht am 9. November, sondern am 9. Oktober haben Menschen Kopf und Kragen für die Freiheit riskiert, nämlich Ostdeutsche und nicht nur aus Leipzig.“

Stellvertretend für diese vielen Menschen, die im Herbst 1989 das SED-Regime zum Einsturz brachten, zeichnet die Deutsche Nationalstiftung zur Erinnerung an das dramatische Geschehen vor 25 Jahren nun zwei Pfarrer und einen Bürgerrechter mit dem Deutschen Nationalpreis aus. Zur Begründung dieser Entscheidung sagte Dirk Reimers am Dienstag: „Ihr Mut und ihre Gewaltlosigkeit zeugen von einer beispiellosem Zivilcourage, die unserer Nation die einzige erfolgreiche Revolution in ihrer Geschichte beschert hat.“