Der Bundespräsident besucht den Ort eines Massakers der Wehrmacht in Griechenland

Hamburg. Bundespräsident Gauck zeigt Mut! Er verbringt diesen Mittwoch in Lyngiades in Nordgriechenland, wo am 3. Oktober 1943 als Vergeltung für den Tod eines deutschen Oberstleutnants 82 Zivilisten grausam niedergemetzelt wurden. Bis auf die Kirche und die Schule brannten die deutschen Soldaten das ganze Dorf nieder, nur vier Menschen konnten sich retten. Der kleine Gebirgsort war 1943 nicht der einzige in Griechenland, in dem die deutschen Truppen als Vergeltungsmaßnahme grausame Massaker anrichteten: In Kommeno ermordeten sie 317 Menschen, darunter 97 Kinder, weil angeblich auf einen deutschen Offizier geschossen worden war, in Mousiotitsas waren es 153 Zivilisten.

Gauck wird in Lyngiades an der Gedenktafel für die Opfer des Massakers den Namen Tsirikis lesen, dessen Vorname fehlt, weil der Säugling noch nicht getauft war. Er wird mit Theodoros Lollis das mit 100 Jahren älteste Mordopfer entdecken und an seine Besuche in Sant Anna di Stazzema in der Toskana im März und in Oradour bei Limoges im September vergangenen Jahres denken. Alle diese Orte eint, dass die Kriegsverbrechen an den Zivilisten (in Sant Anna di Stazzema waren es 1944 am 12. August 546 Opfer, in Oradour am 10. Juni 642) ungesühnt blieben. Noch im Herbst 2012 hat die Staatsanwaltschaft in Stuttgart entschieden, dass die letzten noch lebenden Täter von Sant Anna nicht weiter verfolgt werden. Für das Massaker von Lyngiades hatte die Staatsanwaltschaft in München bereits 1972 die Verfolgung der Täter eingestellt. Das mag juristisch plausibel sein, lässt einen aber dennoch erschaudern.

Nach den großen NS-Prozessen Mitte der 1960er-Jahre hätte man erwartet, dass derart grässliche Abschlachtungen von Zivilisten ebenfalls geahndet würden. Sicher: Partisanenkämpfe sind keine Ritterspiele, und nach vier Jahren Kriegsführung muss man von einer zunehmenden Verrohung der Truppe ausgehen. Doch für das, was deutsche Truppen damals unter dem Deckmantel von Vergeltungsmaßnahmen oder Säuberungsaktionen an unbeteiligten Kindern, Erwachsenen und Greisen verübt haben, gibt es keine Rechtfertigung.

Die Besuche des Bundespräsidenten sorgen dafür, dass uns die verabscheuungswürdigen Taten deutscher Soldaten in den griechischen, italienischen und französischen Dörfern nach 70 Jahren wieder bewusst werden. Joachim Gauck entschuldigt sich für uns alle. Dies kann ein wenig die Scham darüber lindern, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht möglich war oder in der jungen Bundesrepublik vereitelt wurde durch „rechtzeitig“ erlassene Gesetze, oftmals vorbereitet von Juristen, die schon zu Kriegszeiten reuelos gewirkt hatten. Der Bundespräsident konfrontiert sich und einen jeden von uns noch einmal mit den Taten der Väter- und Großvätergeneration. Er zeigt, dass Verdrängen und Verschweigen nicht zu Vergessen führt. Die sprachlose Generation der Väter nach dem Krieg hat uns ein besonderes Gepäck mitgegeben, für das wir selbst nichts „können“, das aber Teil unserer Geschichte und unserer Verantwortung ist. Darüber zu reden und diese Geschichte, so schmerzhaft sie ist, unseren Kindern zu erzählen, ist eine Verpflichtung.

Auch das zeigt uns Joachim Gauck in Lyngiades. Denn ein Vergessen würde den Verantwortlichen von damals in die Hände spielen und die Getöteten ein weiteres Mal hinrichten. Nur wenn wir erinnern und das Wort weitergeben, haben wir eine Chance, dass in den heutigen kriegerischen Auseinandersetzungen ein Kommandant hoffentlich rechtzeitig gestoppt wird, wenn er als Vergeltung für einen feindlichen Schuss 300 Zivilisten vor die Wand stellen und mit Maschinengewehren niedermähen will. Dass der Mut unseres Bundespräsidenten uns in Griechenland womöglich etwas kosten wird, wo schon im Vorfeld von Gaucks Reise der Ruf nach Restitution laut wurde, mögen wir hinnehmen. Auch ein paar Millionen Euro, am besten angelegt in einer gemeinnützigen Stiftung zum Austausch griechischer und deutscher Jugendlicher, kann dem Baby der Familie Tsirikis nicht mehr zu einem Vornamen verhelfen.