EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnt vor einer totalitären Technologie

Brüssel. Martin Schulz, SPD-Politiker und seit Januar 2012 Präsident des Europäischen Parlamentes, zieht es auf viele Schlachtfelder. Er taucht überall dort gerne auf, wo er soziale Gerechtigkeit wittert oder die Chancen zukünftiger Generationen und die freiheitliche Demokratie als Garant für die Selbstbestimmung und Autonomie der Bürger in Gefahr sieht.

In diesem Sinne kritisierte er auch die Rettungspakete in der europäischen Schuldenkrise als Fortsetzung jener Politik, deren Marktradikalismus die Krise erst ausgelöst und verschärft habe. Längst schon aber hat er neue Feinde der Demokratie ausgemacht, deren Wirkungsmacht heute bestenfalls erst ansatzweise abschätzbar sei.

Gemeint ist die digitale Revolution mit weltumspannenden Konzernen wie Facebook und Google, deren beherrschende Marktstellung zu einer bislang unvorstellbaren Bedrohung der Freiheits- und Grundrechte werde. „Google beherrscht 90 Prozent des Marktes und fängt an, andere Medien zu verdrängen“, sagte er in Karlsruhe, wo ihm die Pädagogische Hochschule für seine Verdienste um Europa die Ehrendoktorwürde verlieh. Diese Macht sei in der Lage, die Demokratie zu zerstören.

Die digitale Revolution sei dabei, die Welt in einer Art und Weise zu verändern, die einer entschiedenen Reaktion bedürfe, beklagte er und verwies auf die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte durch die Uno-Generalversammlung von 1948. „Heute brauchen wir eine Bill of digital rights, eine Charta der digitalen Grundrechte“, forderte Schulz unter dem Applaus der Gäste aus Politik und Gesellschaft.

Eine solche Grundrechte-Charta hatten im Dezember 2013 in einem Appell an die Vereinten Nationen 500 Schriftsteller aus aller Welt gefordert. Sie protestierten gegen Massenüberwachung durch Regierungen und Unternehmen. Aus Deutschland beteiligte sich unter anderem Günter Grass. Die Schriftsteller schrieben, eine tragende Säule der Demokratie sei die Unverletzlichkeit des Individuums, dessen Würde über seine Körpergrenze hinausgehe. Alle Menschen müssten das Recht haben, in ihren Gedanken und Privaträumen, in ihren Briefen und Gesprächen frei und unbeobachtet zu bleiben.

Es gehe keinesfalls darum, Fortschritt zu verhindern, sondern darum, ihn so zu gestalten, dass er den Menschen diene, sagte Schulz. „Beim Fortschritt geht es um Optionen, die so oder so ausfallen können.“ Darum müssten jetzt die richtigen Fragen gestellt werden, damit der digitale Fortschritt zu gesellschaftlichem und humanem Fortschritt führe. „Wir müssen uns fragen: Bringt permanentes Online-Voting mehr Demokratie?“, sagte Schulz.

Personen-Daten seien heute das Geschäftsmodell von digitalen Konzernen wie Facebook. Das Unternehmen habe den Kurznachrichtendienst WhatsApp für 19 Milliarden Dollar gekauft. Dabei beschäftige das Unternehmen nur 50 Mitarbeiter. Der Wert von WhatsApp bemesse sich allein an den Personendaten, mit denen etwa Konsumentenprofile erstellt würden.

Auch die Suchergebnisse bei Google seien bei jedem unterschiedlich, weil Google das Such- und Leseverhalten auswerte und die Daten speichere. „Google kann nachvollziehen, was Sie vorher gesucht haben“, sagte der Präsident des Europaparlaments. „So wird der gläserne Konsument zum Archetyp des neuen Menschen.“

Und niemand außer Google könne das Zustandekommen der Suchergebnisse nachvollziehen. Sie seien das gut gehütete Geheimnis von Mathematikern, die auf diese Weise auch die persönliche Meinungsbildung beeinflussten, indem sie die Bürger im Netz nur mit den Informationen versorgten, die ihrem Datenprofil entsprächen. „Ich mache mir große Sorgen um die Datensammelwut von Privaten und Staat und um das Übermaß an Überwachung“, sagte Schulz. Er erlebe es immer häufiger, dass Gesprächspartner sich nicht mehr trauten, bestimmte Dinge am Telefon auszusprechen. „Wir fangen an, uns selbst zu zensieren“, sagte er. „Wir schränken unsere Freiheit ein.“

Es sei höchste Zeit, die Freiheitsrechte gegen diese „totalitäre, alles durchdringende Technologie“ zu verteidigen. Doch die Nationalstaaten könnten es mit den globalen Konzernen nicht aufnehmen, das überfordere sie. „Das sehe ich als Aufgabe der EU“, sagte der SPD-Politiker. Als großes Thema sieht er dabei die Verdrängung anderer Medien durch Google. Es gelte, die Meinungs- und Pressefreiheit zu sichern. „Die Demokratie braucht Medien, die Orientierung geben und für Transparenz sorgen“, sagte er. Google leiste dies nicht. Gleichzeitig müsse die Politik die Privatsphäre der Menschen schützen. Sie müsse die Autonomie des Individuums garantieren, denn diese bestimme das Menschsein. Ohne Freiheits- und Grundrechte sei ein würdiges Leben nicht möglich. Es sei Zeit zu handeln.