Forscher Stephan Klecha erklärt den Hamburger Grünen, wie es damals zu Forderungen nach Sex mit Kindern kam

Hamburg. Am Ende der Begrüßung weiß Katharina Fegebank nicht so richtig, was sie den 40 Gästen wünschen soll. Viel Vergnügen? Es geht um sexuellen Missbrauch von Kindern. Eher nicht. Also sagt die Vorsitzende der Hamburger Grünen in der Landeszentrale der Partei: „Ich wünsche gutes Verdauen.“ Dann gibt sie das Wort an den Parteienforscher Stephan Klecha ab, der an der Universität in Göttingen in einem Wissenschaftler-Team die Geschichte der Grünen umgräbt. Im Auftrag der Grünen. Wie konnte es sein, dass Anfang der 1980er-Jahre Straffreiheit für Sex mit Kindern gefordert wurde? Nicht als Zwischenrufe einzelner Grüner auf Parteitagen, sondern in Wahlprogrammen, auf Flyern und auf Parteitagen. Auch in Hamburg.

„Es gab damals zwei Einfallstore“, sagt Klecha dem Abendblatt. Zum einen durch einen Teil der Schwulenbewegung in der linksalternativen Szene und innerhalb der Grünen. Einige Gruppen seien die dominante Kraft gewesen bei der Forderung, die Paragrafen 174 und 176 zu überarbeiten. Die Gesetze stellen Sex mit Minderjährigen als Missbrauch unter Strafe. Neben der Homosexuellenpolitik war es auch die Kinderpolitik, in der Sex mit Kindern verharmlost wurde. „Dieser Diskurs ist nicht ganz so dominant, aber er schlägt sich auch in einer Reihe von Wahlprogrammen und in den Debatten der Grünen nieder“, sagt Klecha.

Das ist neu. Bisher lag der Fokus der Aufarbeitung grüner Vergangenheit und einiger ihrer pädophilen Gedankenträger auf der Schwulenbewegung. Im Kapitel „Kinder“ im Wahlprogramm zur Bürgerschaftswahl 1982 heißt es: „Wir treten ein für eine freie, selbstbestimmte, ungestörte Entfaltung der kindlichen Sexualität. Jede Form von Schmusen, Kuscheln, Streicheln oder Liebemachen hat den positiven Effekt, dass Kinder einen spontanen Umgang mit ihrer Lust lernen, ein unbefangenes Verhältnis zum eigenen Körper und zu dem anderer bekommen.“

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vize-Chef der Partei in Hamburg, Manuel Sarrazin, zeigt sich geschockt von der Passage. „Das liest sich einfach grässlich.“ Das Forscher-Team um Franz Walter und Klecha müsse dies nun historisch bewerten. „Moralisch sage ich ganz klar: Was damals an pädophilen Gedanken innerhalb der Grünen vorhanden war und toleriert oder sogar in Beschlüsse gegossen wurde, ist nicht zu ertragen und durch nichts zu rechtfertigen.“ Niemand könne sich heute aus der Verantwortung stehlen, indem sie pädophile Forderungen mit einem Zeitgeist von damals entschuldigen würden. „Auch wir Grüne nicht“, sagt Sarrazin. Die grüne Bewegung sei in diesem Punkt naiv gewesen.

Der Politologe Klecha lobt die konsequente Aufklärungsarbeit der Hamburger Grünen heute und stellt bei seinem Vortrag klar, dass es Anfang der 1980er-Jahre keinen „Zeitgeist“ gegeben habe, der Sex mit Kindern als „sexuelle Befreiung“ oder gar im Sinne des Kindeswohls gerechtfertigt hätte. Im Gegenteil: Es hat damals Protest gegen die Forderungen in grünen Wahlprogrammen gegeben. Nicht nur außerhalb der Bewegung, sondern durch grüne Politiker selbst. Es habe in der Partei zudem Anträge gegeben, mit denen die Passagen zur Straffreiheit bei Sex mit Kindern aus dem Programm der Grünen gestrichen werden sollten. Die Grünen in Bayern haben die Forderung nach Straffreiheit ganz abgelehnt. Und gerade die erstarkende Frauenbewegung innerhalb der Partei hat laut Klecha Mitte der 80er gegen diese Art der Kinderpolitik protestiert und mit dafür gesorgt, dass die Forderungen aus den Parteiprogrammen wie in Hamburg verschwanden. So etwa die „Frauengruppe Wandsbek“.

Zudem findet sich auch im Wahlprogramm von 1980 ein Abschnitt unmittelbar unter den brisanten Forderungen. Dort heißt es: „Wenn wir auch für ein zärtliches Verhalten zwischen Erwachsenen und Kindern eintreten, meinen wir damit nicht, mit ihnen unsere gewohnte Erwachsenensexualität zu praktizieren. Das ist Kindesmisshandlung und hat mit Zärtlichkeit, Gleichberechtigung etc. nichts zu tun.“

Für Klecha, aber auch für Marco Carini, der 1980 im Beirat des Landesvorstands der Grünen saß und heute Redakteur bei der „taz“ ist, zeigt dieser Zusatz, dass das Thema „Sex mit Kindern“ damals kontrovers in der Partei diskutiert wurde. „Beide Seiten finden sich in den wolkig formulierten Passagen wieder“, sagt Carini auf der Veranstaltung. Gegner und Befürworter der Straffreiheit bei Sex mit Kindern.

Für Klecha sind die Zusätze und die blumigen Wahlkampf-Passagen allerdings kein Grund, die kruden Forderungen einiger Grüner zu relativieren. Auch Manuel Sarrazin sieht in der Grünen-Geschichte „unentschuldbare Fehler“. Und er sagt: „Wir können und wollen uns heute nicht rausreden, sondern diese aufklären.“

Doch wie war es möglich, dass in der linksalternativen Szene diese Forderungen überhaupt gestellt wurden? Und warum konnten Texte wie jene von Daniel Cohn-Bendit entstehen? Auch Ex-Bundesparteichef Jürgen Trittin hatte in den 1970er- und 1980er-Jahren Schriften presserechtlich verantwortet, in denen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen verharmlost wird. Der Forscher Stephan Klecha macht vier Positionen der Grünen von damals aus, die einen ideologischen Nährboden für die Pädophilie-Debatte lieferten. Zum einen verstanden sich die Grünen als Teil der Befreiung von der verknöcherten und restriktiven Sexualmoral der 1950er- und 1960er-Jahre. Sexuelle Freiheit sollte offen ausgelebt werden – ohne Tabus. Zum anderen manifestierte sich laut Klecha in der grünen Bewegung das Feindbild „Staat“. Strafen und Verbote wurden als Teil eines „repressiven Apparats“ empfunden. Darunter fielen für manche Grüne auch die Gesetze zur Bestrafung von sexuellem Missbrauch. Haft sei keine Lösung.

Drittens herrschte bei den Grünen in ihrer Gründerzeit eine hohe Affinität zu Minderheiten. Dazu gehörten die Schwulen, aber auch diskriminierte Gruppen wie Sinti und Roma. Und offenbar werteten einige Grüne auch Pädophile als schützenswerte Minderheit der deutschen Gesellschaft. Vielleicht auch aus wahlkampfstrategischen Gründen, wie Klecha ergänzt. Viertens lasen damals nach Angaben des Göttinger Forschers viele junge Menschen Werke wie „Die sexuelle Revolution“ von Wilhelm Reich. Dieser gab die wissenschaftliche Begründung für die „sexuelle Befreiung“ als Abgrenzung von der NS-Täter-Generation und legitimierte Experimente wie die linken Kommunen. In dieser „Wissenschaftshörigkeit“ sei bei den Grünen die Opferperspektive des missbrauchten Kindes lange ignoriert worden.

Volker Beck, menschenrechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion und offen lebender Schwuler, erklärte unlängst in der „taz“, dass die Homosexuellen-Bewegung so schwach auf Pädokriminalität reagiert habe, weil „wir uns nicht in die Perspektive von Kindern versetzen konnten. Kinder waren für uns weit weg.“ Homosexuelle, die seinerzeit mit dem schwulenfeindlichen Paragrafen 175 lebten, hätten eher Angst vor der Polizei gehabt.