Europas produzierendes Gewerbe steht vor langer Durststrecke – außer in Deutschland

Berlin. So einig präsentiert sich Europa selten: Die von Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise gezeichneten Länder des Kontinents setzen darauf, dass die Renaissance der heimischen Industrie die Volkswirtschaften aus der Krise trägt. Re-Industrialisierung heißt das Zauberwort. Diese Hoffnung gründet auf den Erfahrungen, die Deutschland in den vergangenen Jahren gemacht hat: Dank einer breit aufgestellten und stabilen industriellen Basis ist die deutsche Wirtschaft ohne Massenentlassungen und soziale Verwerfungen durch die Krise gekommen und schafft einen Arbeitsmarktrekord nach dem anderen.

Allerdings: Vor den anderen großen Volkswirtschaften Europas liegt noch viel Arbeit, wenn sie eine solch florierende Industrielandschaft wie hierzulande aufbauen wollen. Das zeigen neue Berechnungen des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Die Ausgangslage für eine Renaissance der britischen Industrie etwa ist denkbar ungünstig: Alle untersuchten Branchen, von der Elektro- bis zur Glasindustrie sind seit der Jahrtausendwende geschrumpft. Lediglich die britischen Maschinenbauer konnten zwischen 2000 und 2012 überhaupt leicht wachsen; die Fahrzeugbauer schafften es immerhin, nicht noch weiter zu schrumpfen. Für die britische Industrie ist ihr geringes volkswirtschaftliches Gewicht eine erhebliche Belastung im Alltagsgeschäft sagt Utz Tillmann, der Hauptgeschäftsführer des VCI: „Großbritanniens Schwerpunkt liegt vor allem in Finanzdienstleistungen. Dadurch gelten Banken dort als besonders attraktive Arbeitgeber. Gesuchte Fach- und Führungskräfte entscheiden sich im Zweifelsfall deshalb eher für das Bankgewerbe als für die Industrie.“

In einer ähnlich geschwächten Verfassung befindet sich die Industrie in Italien und Frankreich: Die italienische Industrie ist zwar relativ wichtig für die gesamte Volkswirtschaft, und Italien verfügt über einige starke Branchen und Unternehmen, etwa bei der Metallverarbeitung oder in der Glasindustrie. Aber selbst diese eigentlich starken Branchen sind in den vergangenen Jahren geschrumpft, weil sie offenbar nicht wettbewerbsfähig genug sind. Das gilt ebenfalls für die italienischen Maschinenbauer, die auch deutschen Unternehmen traditionell als harte Konkurrenten galten. Offenbar haben diese es in den vergangenen Jahren nur begrenzt geschafft, die lukrativen neuen Kunden in den schnell wachsenden Schwellenländern China, Indien und Brasilien für ihre Produkte zu begeistern. Die Nachfrage aus diesen Ländern hatte nach der Krise das Wachstum der deutschen Produzenten getrieben.

Auch die EU-Kommission hat gewarnt, dass die industrielle Basis der europäischen Volkswirtschaft seit Jahren schrumpft – anstatt zu wachsen, wie es viele Politiker gerne hätten. Der Anteil der produzierenden Unternehmen an der gesamten Wertschöpfung in der EU sackte im vergangenen Jahr auf nur noch 15 Prozent ab. Dabei hatte die EU als Ziel vorgegeben, dass die Industrie im Jahr 2020 für ein Fünftel der europäischen Wirtschaftsleistung verantwortlich sein sollte. Die Folge: Seit 2007 gingen in der Europäischen Union 3,8 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren.