Bundespräsident: Das Land muss sich „früher und substanzieller“ in der Welt einbringen

München. Joachim Gauck hat sich einen Ruf erarbeitet als Redner, der immer wieder Überraschungen, manchmal auch unangenehme, bereit hält. Besonders für die politische Klasse. Und so war auch seine Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz in Berlin mit einer Mischung aus Neugier und Sorge erwartet worden. Zurecht, wie sich am Freitag herausstellte.

Was Gauck vor Außen- und Sicherheitsexperten, internationalen Politikern und Militärs ausbreitete, war ein Weckruf für Berlin. Gaucks Ziel: Deutschland aus seiner außenpolitischen Bequemlichkeit aufzurütteln. „Zu glauben, man könne in Deutschland einfach weitermachen wie bisher – das überzeugt mich nicht“, sagte er. Die Welt verändere sich sehr viel schneller, als von den Auguren vorhergesagt. Diese Veränderung betreffe Deutschland sogar noch stärker als andere. „Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung“.

Daraus leite sich Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: „dieses Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen“. Gerade angesichts eines sich allmählich zurückziehenden Amerikas. Und deshalb solle sich Deutschland „früher, entschiedener und substanzieller einbringen“. Das Land könne sich nicht mehr nur hinter anderen verstecken. Gauck deutlich: „Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde.“

Gaucks Rede war in gewisser Weise eine Abrechnung mit der Politik der vergangenen vier Jahre, besonders mit dem ehemaligen Außenminister Guido Westerwelle, der es als sein größtes Verdienst ansah, Deutschland aus den Händeln dieser Welt herausgehalten zu haben. „Es ist trügerisch sich vorzustellen, Deutschland sei geschützt vor den Verwerfungen unserer Zeit“, mahnt Gauck. Da Deutschland besonders von der internationalen Ordnung profitiere, sei es auch besonders anfällig für Störungen im System. Die Folgen des Nichtstuns könnten genauso gravierend sein wie die Folgen des Eingreifens, manchmal sogar gravierender. Er setzte sich auch mit denen auseinander, die mit der deutschen Geschichte argumentieren, um Deutschlands „Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit“ zu rechtfertigen. Das sei, sagte Gauck mit den Worten des Historikers Heinrich August Winkler, ein „fragwürdiges Recht auf Wegsehen, das andere westliche Demokratien nicht für sich in Anspruch nehmen“. Eine nicht zu rechtfertigende „Selbstprivilegierung“.

Es sei ein Missverständnis, so der Präsident, zu glauben, ein engagierteres Deutschland führe zu Konflikten mit den Nachbarn. Er plädiere nicht für deutsche „Kraftmeierei“, sondern für mehr deutschen Gestaltungswillen im Rahmen bestehender Partnerschaften. Vor „Sonderpfaden“ jedenfalls solle Deutschland sich hüten. Es gehe vielmehr darum, mehr gemeinsam mit den Partnern in EU und Nato zu leisten.

Gaucks Gardinenpredigt wurde von der Außen- und Sicherheitscommunity mit großer Zustimmung aufgenommen. Kaum hatte der Präsident geendet, twitterte der ehemalige US-Botschafter bei der Nato, Ivo Daalder schon: „Das ist tatsächlich das erste Mal, dass ein führender deutscher Politiker argumentiert, Deutschland müsse die Konsequenzen aus seiner Macht ziehen, in Europa und darüber hinaus.“ Um in einem weiteren Tweet ein etwas skeptischeres: „man wird das an den Taten messen müssen“, hinterherzuschicken. Der schwedische Außenminister Carl Bildt denkt, dass diese „Grundsatzrede“ die Debatte in Deutschland prägen werde. Man wird sehen, wie die deutsche Politik den Vorstoß aufnehmen wird.

Schließlich hatte Gauck nicht mit Kritik gespart, etwa an den deutschen Parteien, denen die Verfassung solch eine zentrale Stellung im deutschen Machtgefüge zubilligt. Auch in Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften, in Parteien und Verbänden müsste viel mehr über diese Themen diskutiert werden.

Was Gauck skizzierte, war ein außenpolitisches Fitnessprogramm, damit dieses Land künftig eine angemessene Rolle für die Aufrechterhaltung einer liberalen Weltordnung spielen kann. Tatsächlich sprachen sich aber gerade 61 Prozent der Deutschen in einer ARD-Umfrage gegen die Ausweitung der Bundeswehr-Einsätze in internationalen Krisengebieten aus.