Europa braucht weitere Reformen, um gegen China bestehen zu können, heißt es beim Weltwirtschaftsforum in Davos

Davos. Axel Weber will kein Spielverderber sein. Der Verwaltungsratschef der Schweizer Großbank UBS versteht schon, warum er gefragt wird: Ist Europa zurück, hat sich der Krisenkontinent erholt? „Die Dinge fühlen sich besser an, ja“, sagt er. „Aber die Erholung Europas ist kein Grund, in Begeisterung zu verfallen.“ Die Stimmung ist gedämpft – ein wenig absichtlich heruntergedimmt womöglich. Denn die Wirtschaftselite, die in Davos in den Schweizer Bergen beim Weltwirtschaftsforum zusammensitzt, sieht in Europa sehr wohl ökonomische Erholung, sieht das Auseinanderbrechen der Euro-Zone abgewendet, sieht Wachstumschancen in den EU-Ländern, speziell in Deutschland und in Großbritannien, wie eine große Umfrage der Beratungsgesellschaft PwC ergibt.

Aber sie fordern: Jetzt dürfen die Regierungen nicht nachlassen und aufhören zu reformieren. Denn, so sagt es der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff: „Europa kommt wieder. Aber man kann noch nicht sagen, dass Europa schon wieder da ist.“ Besonders die Arbeitslosigkeit sei „entsetzlich“, sagt er. „Der kritische Punkt ist die immer noch fehlende Flexibilität des Arbeitsmarktes “, ergänzt Sir Martin Sorrell, Chef des Werbekonzerns WPP. Reformen fehlten in weiten Teilen Europas.

In die gleiche Richtung geht, was Pierre Nanterme beobachtet, der Vorstandschef des Beratungsunternehmens Accenture: „Wir sind immer noch in der Erholung. Europa wird irgendwann zurück sein, wenn es einmal das Niveau der Wettbewerbsfähigkeit erreicht hat, das es heute weltweit braucht. Bis dahin ist aber noch viel zu tun. Für alle Länder – bis auf Deutschland. “ Es ist ein recht differenzierter Blick auf Europa, der den Auftakt des Weltwirtschaftsforums prägt. Die Lage ist besser als im Vorjahr, aber noch weit entfernt von vor der Krise, sagt Weber. Da könne man auf Aktienkurse und Marktkapitalisierung schauen oder auf das Wirtschaftswachstum: Nur Deutschland habe den Vorkrisenstand wieder erreicht, sagte Weber. „Nur Deutschland hat sich aus der Rezession und der systemischen Bankenkrise befreit“, sagt Rogoff. „Ich bin zuversichtlicher für Ost- als für Westeuropa“, sagt Sorrell. „Und Deutschland gehört für mich zum Osten.“

Was fehlt dem hochrangig besetzten Panel in Davos genau? „Die Reformen müssen weitergehen, die politische Führung darf sich jetzt nicht zurücklehnen“, sagt Axel Weber. „In Technologie, Innovation, im Handel muss sich die EU anstrengen. Wenn Europa gegen China standhalten will, darf es keine Selbstzufriedenheit geben.“ Von den fünf größten EU-Volkswirtschaften seien nur zwei weltweit konkurrenzfähig, Deutschland und Großbritannien. „Auch mit Spanien geht es aufwärts, aber mit unakzeptablen Niveaus von Arbeitslosigkeit“, sagt Sorrell.

Italien? Da setzen viele, wie der Chef des italienischen Energiekonzerns Eni, auf den neuen Vorsitzenden der Regierungspartei PD, Matteo Renzi. „Er treibt den Wandel schneller und entschiedener voran als je zuvor. Wenn das greift, wird das die Lage auf einen Schlag ändern“, sagt Giuseppe Recchi.

Und Frankreich? „Frankreich ist sicher noch im Abstieg“, sagt Sorrell. Reformen: Fehlanzeige. „Präsident Hollande versucht etwas dagegen zu tun, aber eben jetzt erst.“ Bei der Präsentation der PwC-Umfrage kam das Land gar nicht vor – und auf die Frage, ob Frankreich überhaupt noch auf der Landkarte der Topmanager vorkomme, sagte Vorstandschef Dennis Nally nur: „Ich kann Ihnen versichern, dass Frankreich weiter auf der Landkarte steht“ – aber auch nicht mehr.

Wo die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihren Teil der Aufräumarbeiten nach der Euro-Krise noch nicht oder nur unzureichend erledigt haben, da ist die EU als Ganzes schon weiter. Die Bankenaufsicht wird künftig in Frankfurt erledigt, auch das Kommando zur Abwicklung einer Pleitebank soll bald zentral gegeben werden. Zuvor aber kommt noch eine Übung, die Weber für brisant hält. „Ich fürchte zwei Risiken“, sagt er. Das eine: die Europawahl im Mai dieses Jahres. „EU-skeptische Kräfte könnten eine entscheidende Kraft werden. Dabei ist die Entscheidungsfindung in der EU ohnehin schon kompliziert“, sagt Weber, der Deutschland einmal im Direktorium der Europäischen Zentralbank vertrat.

Zweitens fürchtet er, dass die Sanierung der Banken die nächste Bankenkrise provozieren könnte: Die Bilanzen von 130 Banken in Europa werden demnächst von der EZB streng geprüft. Im November sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden. „Das kann zu einer gewissen Unsicherheit führen“, sagt Weber. „Wir werden nicht erst im November, sondern schon einige Wochen vorher sehen, dass Spieler gegen die möglichen Verlierer der Bilanzprüfungsübung wetten und sie abstoßen.“ Das könnte tatsächlich zu neuen Schieflagen führen. „Und es werden wieder die Staaten sein, die den Banken frisches Kapital geben müssten“, sagt Weber. Die Finanzmärkte seien dazu noch nicht bereit.

Bis Sonnabend werden auf dem 44. Weltwirtschaftsforum neben Vertretern der Wirtschaft mehr als 40 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt erwartet, unter ihnen der britische Premierminister David Cameron, Japans Regierungschef Shinzo Abe, die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff und Irans Staatschef Hassan Ruhani. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die bisher regelmäßig an dem jährlichen Forum teilnahm, wird dieses Mal nicht dabei sein.