Experten sind sich einig: Das Rentensystem beutet Familien aus. Jedes im Jahr 2000 geborene Kind zahlt 77.000 Euro mehr ein, als es im Alter beziehen wird.

Berlin. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind Familien stark gegenüber Kinderlosen benachteiligt. Wie eine von der Bertelsmann-Stiftung präsentierte Studie zeigt, wird ein im Jahr 2000 geborenes Kind im Laufe seines Lebens durchschnittlich 77.000 Euro mehr in die Rentenkasse einzahlen, als es im Alter an Rente beziehen wird. Dieser Effekt verdoppelt sich, wenn man noch berücksichtigt, wie viel Nachwuchs und damit neue Beitragszahler jedes Kind später bekommt. Die jetzt geplanten Rentenänderungen verändern die Rechnung kaum.

Der Grund für die einseitige Belastung von Familien ist die Organisation des Rentensystems: Anders als bei einer privaten Versicherung werden die Beitragszahlungen der Versicherten nicht angespart, sondern fließen direkt an die Rentner. Solange es genügend Nachwuchs gibt, funktioniert dieses Umlageverfahren. Doch werden heutzutage nur noch halb so viele Babys geboren wie Anfang der 60er-Jahre. Die jüngere Generation ist deshalb ein Drittel kleiner als die Elterngeneration. Und dieser Trend wird sich auch in den nächsten Dekaden nicht ändern. „Dieser grundlegende Systemfehler in der Konstruktion des Rentenversicherungssystems führt dazu, dass Familien – anders als kinderlose Erwerbstätige – neben ihrem finanziellen Betrag an die Rentenversicherung einen zusätzlichen Betrag durch Investitionen von Zeit und Geld in ihre Kinder leisten“, stellt der Autor Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum in der Studie fest. Die Kinder würden später sowohl die Altersbezüge ihrer eigenen Eltern als auch die Renten der Kinderlosen finanzieren.

Der Ökonom moniert, dass Eltern selbst nicht davon profitieren, dass sie den Nachwuchs für das Rentensystem großziehen. Die Erziehungszeiten, die meist der Mutter bei der Rente angerechnet werden, entsprechen lediglich einem Wert von 8.300 Euro – ein Minibetrag im Vergleich zu den 77.000 Euro Gewinn, die jedes Kind durchschnittlich der Rentenkasse einbringen wird. Weil die meisten Frauen nach der Geburt eines Kindes ihre Berufstätigkeit unterbrechen und dann oft dauerhaft verkürzen, fallen die Renten von Müttern unter dem geltenden Recht meist deutlich niedriger aus als die der kinderlosen Frauen. Auch die jetzt geplante Aufstockung der Renten von Müttern, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, gleicht diese Lücke nicht annähernd aus.

Kritik von Bertelsmann Stiftung

„Unser Rentensystem benachteiligt Familien – ausgerechnet diejenigen, die das System am Leben erhalten“, rügt der Vorstand der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger. Hohe Sozialabgaben benachteiligten Familien, da bei den Beiträgen anders als bei der Einkommenssteuer nicht berücksichtigt werde, dass Kinder die finanzielle Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Gerade die hohe Belastung von Familien mit Rentenversicherungsbeiträgen erhöhe das Risiko, dass Kinder in Armut aufwachsen.

Mit Betreuungsgeld, Elterngeld, Kindergeld, Krippen, Schulen und zahlreichen anderen Leistungen gibt der Staat zwar auch jährlich dreistellige Milliardensummen für die Kinder aus. Doch stehen diesen Investitionen deutlich höhere Steuern und Abgaben gegenüber, die die heutigen Kinder später aufzubringen haben. Insgesamt bringt jeder Sprössling dem Staat trotz der 156 unterschiedlichen Familienleistungen immer noch ein Plus von 50.500 Euro. Rechnet man noch die Kindeskinder hinzu, die durchschnittlich zu erwarten sind und wiederum mehr zahlen als sie an Leistungen erhalten, so verdoppelt sich der Nettogewinn des Staates auf staatliche 103.400 Euro.

Rentenexperte Werding ist sich sicher, dass die von ihm beklagte Schieflage im hiesigen Steuer- und Sozialsystem zulasten von Familien und Kindern den Geburtenrückgang verstärkt hat. „Kinder sind – trotz der Vielzahl an familienpolitischen Leistungen – ein Armutsrisiko“, heißt es in der Studie. Trotz aller bisherigen Reformen, die das Leistungsniveau schrittweise absenken, sei das Rentensystem angesichts der Alterung der Gesellschaft nicht tragfähig. Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft selbst lassen sich nicht wegreformieren. Bevölkerungswissenschaftler gehen davon aus, dass im Jahr 2050 sechs Rentner auf zehn Erwerbsfähige kommen – doppelt so viele wie heute. Die Alterslast kann nach Ansicht Werdings aber gerechter verteilt werden.

Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, wird in der Studie für zwei Reformalternativen geworben. Das eine Modell sieht vor, das Rentensystem um Kinderfreibeträge nach dem Vorbild des Steuersystems zu ergänzen. Dadurch würden Eltern in dieser Phase weniger in die Rentenkasse einzahlen – ohne dass ihr Rentenanspruch geschmälert würde. Der Staat müsste diese Lücke dann mit Steuergeld füllen. Als zweite Variante propagiert die Studie ein Drei-Säulen-Modell aus Basisrente, Kinderrente und obligatorischer Sparrente. Die steigenden Kosten der Altersabsicherung werden in der Studie den Beschäftigten aufgebürdet. Die Arbeitgeber bleiben lediglich am festgeschriebenen Beitrag zur Basisrente hälftig beteiligt. Im Ergebnis, hat Werding errechnet, hat eine vierköpfige Familie mit Durchschnittseinkommen etwa 2600 Euro im Jahr mehr zur Verfügung als ohne die Reform. Ein Paar ohne Nachwuchs und vergleichbarem Einkommen verfügte dagegen über etwa 1400 Euro im Jahr weniger als bisher. Als Ruheständler wären beide Familien dann ungefähr wieder auf gleichem, im Vergleich zu heute aber minimal niedrigerem verfügbarem Einkommen.

Sozialrichter sieht Familien krass benachteiligt

Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit bereits mehrfach festgestellt, dass Familien im Sozialsystem benachteiligt werden und Korrekturen angemahnt. Im sogenannten Trümmerfrauen-Urteil von 1992 sowie im Pflege-Urteil von 2001 rügten die Karlsruher Richter, dass sowohl das Rentensystem als auch die Pflegeversicherung die doppelte Leistung der Eltern nicht berücksichtigten. Erziehungsleistung müsse ebenso wie die Beitragszahlung anerkannt werden.

Der Gesetzgeber reagierte mit der Einführung der Anerkennung von Erziehungszeiten bei der Rente. In der Pflegeversicherung gibt es für Kinderlose einen Zuschlag von 0,25 Prozentpunkten. Beide Varianten werden von vielen Experten als völlig unzureichend kritisiert. Auch der Sozialrichter Jürgen Borchert, der maßgeblich an den damaligen Verfassungsklagen beteiligt war, sieht Familien weiterhin krass benachteiligt. Der Jurist verweist darauf, dass derzeit drei entsprechende Verfahren von Freiburger Klägern beim Bundessozialgesetz anhängig seien.