Demografischer Wandel heißt höhere Ausgaben für Rente und Pflege. Doch weil die Einwohnerzahl sinkt, kann Deutschland auch Gewinne machen

Hamburg. Zwei Wörter lasten schwer auf dem Rücken dieser Republik: demografischer Wandel. Die Zahl junger Menschen nimmt ab, die älteren Menschen leben länger. Bis 2060 sollen laut „Versorgungsprognose“ nur noch 65 Millionen Menschen in Deutschland leben. Diese Veränderung bedeutet: mehr Geld für die Pflege, mehr Geld für die Rente, weniger junge Fachkräfte für den Arbeitsmarkt. Es sind bekannte Szenarien von Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern.

Weniger bekannt ist: Mit dem demografischen Wandel lässt sich auch Geld verdienen. In Hessen haben sie die „demografische Rendite“ besonders laut ausgerufen. Mehrere Hundert Millionen Euro will Schwarz-Grün vor allem mit dem Abbau von 350 Stellen pro Jahr einsparen. Im Wahlkampf hieß es sogar noch: 3000 Lehrerstellen könnten eingespart werden, weil es in Hessen immer weniger Schüler geben wird.

Rendite ist ein kühler Begriff – schließlich geht es um Menschen. Doch für Flächenländer wird das Sparen durch Schrumpfen zur haushaltspolitischen Größe. So kalkulierte der Landesrechnungshof in Baden-Württemberg für die Schulen eine „demografische Rendite“ von 6708 Lehrerstellen bis 2016. Für Schleswig-Holstein errechnete die Behörde ein Einspar-Potenzial von 20 Prozent. Denn bis 2020 werden 20 Prozent weniger Schüler unterrichtet. In Niedersachsen liegt das Potenzial bis 2020 bei fast 8000 Lehrerstellen. Rendite: 500 Millionen Euro.

Die Menschen in Deutschland werden weniger – und das kann Kosten sparen: in der Verwaltung und öffentlichen Einrichtungen, im Strafvollzug, in der Kita oder an der Universität und den Schulen. Überall dort, wo junge Menschen leben und arbeiten. Und wo sie immer weniger werden. „Bei tendenziell abnehmender Bevölkerung müssen wir weniger Flächen neu erschließen etwa durch neue Straßen oder neue Baugebiete“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete und Demografie-Experte, Günter Krings, dem Abendblatt. „Das dient letztlich dem Erhalt unserer Umwelt.“

Vor allem in der Bildungspolitik zählen Politiker auf die „demografische Rendite“. Und doch zögern fast alle, die gewonnenen Ressourcen durch sinkende Schülerzahlen einfach einzusparen. „Zwar können einige Gemeinden Schulen schließen, weil weniger Kinder eingeschult werden. Das spart Gebäudekosten und Hausmeister ein, aber gleichzeitig gibt es durch Zuwanderung auch betreuungsintensivere Schüler als früher. Lehrerstellen zu kürzen wäre also oft nicht die richtige Antwort“, sagt Krings. Er warnt vor Spar-Automatismen durch schrumpfende Bevölkerung.

Die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht noch weiter: „Die Vorgaben wie Stundentafeln, Fördermaßnahmen oder Klassengröße können schon heute nicht erfüllt werden“, hebt Marlis Tepe hervor. Ein Großteil freiwerdender Ressourcen muss laut GEW auch in die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in den Unterricht fließen. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin hat angekündigt, so wenig Lehrerstellen zu streichen wie möglich, denn „unser Ziel ist eine steigende Bildungsqualität“. Dennoch sollen 3716 Stellen bis 2020 im Schulbereich abgebaut werden. Insgesamt sieht die Regierung in Kiel ein Sparpotenzial von mehr als 5000 bis 2020 im öffentlichen Dienst.

Doch droht nach Ansicht einiger Fachleute und der Interessenvertreter der Lehrer für Bundesländer wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein das, was viele ostdeutsche Bundesländer erleben: Die Lehrerschaft wird immer älter, weil nicht genügend junge Pädagogen mehr nachkommen. 1996 gab es in Gymnasien und Sekundarstufe II an ostdeutschen Schulen 6470 Lehrer unter 40 Jahren. 2010 waren es nur noch 3438. Für Flächenländer wird es nach Ansicht von Demografie-Experten wie Doris Wagner noch stärker als bisher darauf ankommen, die demografische Rendite im Schulsystem zu belassen. „Wir können es uns weniger denn je leisten, Kinder und Jugendliche durch unser Bildungssystem fallen zu lassen“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete dem Abendblatt.

Stadtstaaten wie Hamburg dagegen dürfen gar nicht erst mit einer Rendite rechnen. Denn Hamburg wächst. Die Geburtenzahl ist 2012 gegenüber 2011 gestiegen. Dazu kommt eine Zuwanderung vom Land in die Stadt. In Hamburg wird die Zahl der Schüler bis 2025 von derzeit rund 181.000 auf knapp 192.000 wachsen.

Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) schreibt dazu im Jahrbuch des „Bundes Deutscher Baumeister“, der dem Abendblatt vorliegt: „Während mancherorts von „demografischer Rendite“ die Rede ist und abnehmende Schüler- oder Studentenzahlen als haushaltsentlastende Faktoren registriert werden, bedeutet die aktuelle demografische Entwicklung in den Städten eine Menge Arbeit für die dort Verantwortlichen.“

In der Konkurrenz der wachsenden Metropolen ist laut Scholz daher die Schaffung von mehr und von bezahlbarem Wohnraum die zentrale politische Herausforderung. Hamburg hat heute so viele Einwohner wie 1969 – doch es gibt an Alster und Elbe 200.000 Wohnungen mehr als damals. Der Grund für den starken Bedarf an neuem Wohnraum: Rund 30 Prozent aller Menschen in Hamburg leben allein, weitere 29 Prozent zu zweit in einem Haushalt.

Dennoch sehen CDU-Politiker wie Krings auch für Metropolen wie Hamburg Einsparpotenzial. „Die meisten Gewalttaten werden von jungen Männern unter 30 Jahren begangen. Geht der Anteil dieser Gruppe zurück, kann das beispielsweise auch zu sinkenden Zahlen im Strafvollzug führen.“ Die Familienpolitikerin Katja Dörner (Grüne) hebt hervor, dass der Neubau von Kindertagesstätten auch eine flexible Nutzung des Gebäudes berücksichtigen sollte: beispielsweise als Seniorenheim oder Gemeindezentrum. Das Gleiche gelte für Studentenwohnheime: Nehmen die Zahlen von Studierenden ab, dann müssen auch die Wohnheime anders genutzt werden können – beispielsweise als günstiger Wohnraum.