Viele Mal besuchte der SPD-Kanzlerkandidat im Wahlkampf Hamburg. Das politische 2013 stand im Zeichen von Peer Steinbrück. Die Kampagne entwickelte sich für ihn zu einer Achterbahn der Gefühle. Am Ende war es doch nicht sein Jahr

Hamburg. Peer Steinbrücks Abschiedsgruß an das Jahr 2013 ist sein ausgestreckter Mittelfinger. Ihr könnt mich alle mal! Das muss jetzt raus. Nach all dem, was war. 2013 ist da gerade einmal zur Hälfte vorbei.

Ende Juli hat Steinbrück einen Interview-Termin. In einem Studio in Berlin trifft er den Fotografen der Zeitung. Die Redaktion hat Steinbrück vorab die Fragen geschickt. Jetzt soll er Antworten – nicht mit Sätzen, sondern mit Gesten in die Kamera. Im September, neun Tage vor der Bundestagswahl, soll das Interview mit den Fotos erscheinen. Jetzt, im Sommer, liegt seine SPD in jeder Umfrage zehn Prozent hinter Angela Merkels Union. Es läuft mies. Und die Schlagzeilen erzählen mit einer Mischung aus Ironie und Häme von Peer Steinbrücks Anteil an diesem Misserfolg: Problem-Peer, Peerlusconi, Pannen-Peer. Die Zeitung fragt ihn dann nach seinen neuen Spitznamen. Und Steinbrück antwortet mit dem Stinkefinger.

Steinbrück, das war Ende 2012 vor allem der Freizeit-Professor, der in den Hörsälen der Republik über die Euro-Krise dozierte und als Hinterbänkler im Bundestag nur noch selten die Regierung von Union und FDP attackierte. Er, der sich nach Gezerre und Spekulationen als Kanzlerkandidat der SPD durchsetzte und zurück im Rampenlicht landete. Steinbrück, der 2013 dann Fehler machte, unüberlegte Aussagen, die ihm Umfragetiefs bescherten. Steinbrück, der Kanzlerkandidat 2013 – es war lange die Geschichte eines großen Fehltritts und erst am Ende die Geschichte von Kampfeswillen, Geschlossenheit und einer Idee. Doch da war es schon zu spät.

Man hätte über dieses Jahr gerne noch einmal mit Steinbrück gesprochen. Wie hat er es erlebt – jetzt, wo alles durch ist? Bereut er seine Kandidatur? Steinbrück ist für ein Gespräch nicht zu erreichen. Er macht über die Feiertage Urlaub. Durchpusten.

Viele Male war er seit dem Herbst 2012 in Hamburg zu Besuch. Viele Male hielt er Reden, diskutierte mit Bürgern, schaute in Kameras. Ende 2012 trat er noch souverän auf, mit steinbrückschem Narzissmus, dann war er angeschlagen und wütend. Am Ende ging er in die Gegenoffensive, holte noch einmal Luft, auch wenn sein Akku ziemlich ausgelaugt war. Das Jahr 2013, das Jahr von Peer Steinbrück, mit all seiner Tragik und auch seiner Komik – es lässt sich entlang seiner Besuche in Hamburg gut erzählen.

Im Oktober 2012 spurtet Steinbrück aus seiner schwarzen Limousine rüber in die Handelskammer. Fotografen und Reporter hinterher. Es regnet. Aber Steinbrück ist gut drauf. Die Hamburger Elite-Uni Bucerius Law School begrüßt die neuen Studenten. 700 Zuhörer sitzen im Saal, der frisch gekürte Kandidat der SPD ist Ehrengast. „Festvorträge dauern bei mir normalerweise 90 Minuten“, sagt er ins Mikrofon. Lachen im Publikum. Die Witze funktionieren. Der Schnack in seiner Stimme klingt hier in der Hansestadt nach dem Kumpel von nebenan, mit dem man am Wochenende zum HSV geht. Aber seine Visionen für Europa klingen nach Staatsmann. Er wolle mehr Europa statt eines losen Staatenverbundes, predigt er den Studenten. Steinbrücks Weg aus der Euro-Krise sei Integration, auch wenn dies Deutschland Souveränität koste. Es sind Sätze mit Strahlkraft. Ein Mann mit Witz und Wucht – es ist das Idealbild, mit dem die SPD ihren Kandidaten in das Wahljahr schickt. Mister „Klare Kante“ von nebenan.

Vor 2013 war Peer Steinbrück eigentlich nur noch ein Ehemaliger. Ein Ex. Ex-Staatssekretär, Ex-Ministerpräsident, Ex-Finanzminister. Aber ein Ex mit hohem Renommee. Die Deutschen mögen ihre Politiker vor allem dann, wenn sie keine unangenehmen Entscheidungen mehr verkünden. Aber Steinbrück war ein Ex, der mit Altlasten in diese Kanzlerkandidatur startete.

Im Februar sitzt Steinbrück neben dem damaligen Chefredakteur des „Spiegels“, Georg Mascolo, auf dem Podium des Körber-Forums in der HafenCity. Wieder ein voller Saal. Nur ist es nicht mehr die große Peer-Show. Es dauert nicht lange, da lenkt Mascolo das Gespräch auf all das, was in den vergangenen Wochen im politischen Leben Steinbrücks schiefgelaufen ist: die Debatte um Vortragsgehälter, seine Forderung nach höheren Kanzlergehältern, dubiose Spenden für den Peer-Blog.

Als Mascolo noch seine verbalen Speerspitzen schärft, schüttelt Steinbrück schon den Kopf. Dann reagiert er sich ab. Es sei unverschämt, dass bereits in der Einladung zu der Veranstaltung von einem „verpatzten Start“ die Rede gewesen sei. Steinbrück wirkt dünnhäutig. „Das ist so, als würden Ihre Frau und Sie sich mit meiner Frau und mir treffen wollen, mit dem Hintergedanken, jetzt schauen wir uns mal die missratenen Kinder der Steinbrücks an.“ Mascolo stockt, Stille im Saal. Wut gepaart mit Wucht – vor allem das ist der Kanzlerkandidat an diesem Abend. Und seine Witze wechseln mit Zynismus.

Steinbrücks Jahr 2013 zeigt, wie unberechenbar die große Politik sein kann. Wie gewaltig Stimmungen umschlagen können und wie schnell alte Bilder eines Menschen in der Öffentlichkeit verblassen können und neue Bilder in Stein gemeißelt werden. 2013 war ein Jahr, in dem Angela Merkel die Deutschen dösig lächelte. Die „Mutti“ der Nation, das ist ihr Image. Unverrückbar und mit der Biederkeit der gefalteten Hände vor dem Bauch, lenkte Merkel das Land erfolgreich durch die Euro-Krise. Erfolgreich für die Deutschen jedenfalls, und zum Unmut der Südeuropäer. Steinbrück fuchtelte monatelang wie wild und grub sich immer tiefer ein. Bis 2009 standen sie gemeinsam an der Spitze der Großen Koalition. 2013 hätten Merkels und Steinbrücks Wege kaum anders sein können.

Am 16.Juni 2013 weicht Steinbrücks Wut seinen Tränen. SPD-Parteikonvent in Berlin, vorne auf dem Podium sitzt er neben seiner Frau und der Moderatorin. Gertrud Steinbrück sagt dann, dass sie nicht aushalte, wie die Medien nach immer neuen Gemeinheiten suchten, wie sie nicht sähen, dass es ihr und ihrem Mann bis zur Kandidatur „supergut“ gegangen sei. Wenn jemand das alles aufgebe, dann wolle er wirklich etwas bewegen in diesem Land. „Was ist es, warum Sie es tun?“, fragt die Moderatorin Peer Steinbrück. Er will etwas ins Mikrofon sagen. Aber er kann nicht, winkt ab. Und ringt mit den Tränen.

Fußballspieler weinen, wenn sie ein Endspiel verlieren. Aber Politiker? Gehört so einer ins Kanzleramt? Würde eine wie Merkel jemals öffentlich die Fassung verlieren? Sie war immer die Managerin der Republik, immer auf der Suche nach Mehrheiten. Steinbrück ist ein Mann des Bauchgefühls. Seine Reden sind spontan, er denkt sich Sprüche aus und manchmal nicht an die politischen Folgen. 2013 hat die politische Ratio über die Emotionen gewonnen.

Die SPD-Mitglieder im Saal klatschen Steinbrück auf dem Podium Beifall, als er beinahe weint. Es hatte wenig Geschlossenheit bei den Sozialdemokraten in den Monaten zuvor gegeben. Es wurde starke Kritik an Steinbrück laut. Jetzt aber stehen sie hinter ihm. Vielleicht ist es auch die Erleichterung, wenn ein Mann und seine Partei die Niederlage eingestehen.

Kurz vor der Wahl läuft Steinbrück mit dem Mikrofon durch die kühle Hamburger Spätsommerluft. Seine Partei hat ihm ein Zelt aufgebaut, mitten auf dem Domplatz am Speersort. Und eigentlich ist es nicht nur ein Zelt, vielmehr eine Arena, alles leuchtet rot. Hunderte Zuschauer sind gekommen. Heimspiel. Steinbrück ist hier geboren, im Stadtteil Uhlenhorst, im Osten der Außenalster.

Nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt wirbt Merkel zeitgleich in der Fischauktionshalle um Stimmen. Am Fischmarkt, ruft Steinbrück ins Mikro, da sei er lange Parkplatzwächter gewesen. „Dann hab ich mich hochgearbeitet.“ Die Genossen jubeln, einige halten Plakate in der Hand: „Meine Peerle“. Geht da doch noch was?

Der NSA-Abhörskandal setzt die Kanzlerin kurz vor der Wahl unter Druck, die FDP liegt wie immer am Boden, und Bernd Luckes „Alternative“ droht zur echten Bedrohung für die CDU zu werden. Nach dem Fernsehduell mit der Kanzlerin gewinnt Steinbrück an Beliebtheit. Er hat Rückenwind. Am Speersort arbeitet er sich durch die großen Themen: Mindestlohn, Mieten, Arbeit und Europa. Steinbrück rudert mit den Armen, läuft durch seine rote Arena. „Wie ich hier rumtigere, wie ein Tiger bei Hagenbecks.“ Auch für die Kanzlerin hätte er in seinem Kabinett noch einen Platz: Ministerin für Ungefähres.

So hatte sich seine Partei das vorgestellt für 2013: klare Worte, klare Sprüche – erst in den Tagen vor der Wahl im September findet Steinbrück wieder zu sich. Zu spät. Aber wann ging das alles so dermaßen schief? Sicher drehte sich die Spirale mit jeder „Problem-Peer“-Schlagzeile weiter nach unten, sicher war Steinbrück daran auch schuld. Und sicher bot Merkel wenig Angriffsfläche, galt Steinbrück vielen von Beginn an als zu schwarz für einen rot-grünen Wahlkampf. Wer den Kanzlerkandidaten beobachtet hat, konnte lernen, wie in der Politik falsche Strategien, Dummheiten und unbeherrschbare Dynamiken ineinandergreifen.

Damals, vor Beginn des großen Wahljahres, sollen Steinbrück, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Parteichef Sigmar Gabriel zusammengesessen und die Kandidatur unter sich ausgemacht haben. Und weil keiner so richtig die unumstrittene Nummer eins war, sagte Steinbrück irgendwann: Ok, ich mache es. So fing es an. Von Gabriel hörte man bis zur Wahl-Schlappe wenig – er glänzte selten als Stoßdämpfer oder Motor für Steinbrück. Jetzt aber holt er die Partei für eine Koalition mit der Union ins Boot. Sigmar Gabriel macht aus einer Niederlage der SPD einen gefühlten Sieg, ist selbst Vize-Kanzler und Super-Minister. 2014 könnte sein Jahr werden. Peer Steinbrück hat dann wieder Zeit für Vorträge.