Der Vertrag steht, doch die Regierung kann noch nicht gebildet werden. Erst müssen die Genossen abstimmen

Berlin. Das Wörtchen „Zuversicht“ wird an diesem ersten Tag nach der langen, finalen schwarz-roten Verhandlungsnacht auffallend häufig gebraucht. Es sind führende SPD-Politiker, die von der Zuversicht sprechen, die sie nun in ihre Kreis- und Ortsverbände tragen wollen. Als eine Chance, die man nutzen müsse, sehen sie den Koalitionsvertrag. Für die Sozialdemokraten geht der Verhandlungskampf weiter. Nach der Union ist nun die Basis dran, das große unbekannte Wesen. Als Erstes wird es Post von den Genossen geben. In den kommenden Tagen wird der gesamte Text des Vertrags mit der Union als Sonderausgabe der Parteizeitung „Vorwärts“ an die rund 475.000 Mitglieder verschickt. Dann haben die Parteimitglieder das letzte Wort darüber, ob eine Regierungskoalition auf Bundesebene gebildet wird.

Das Verfahren sorgt nach wie vor für Befremden beim Koalitionspartner in spe. „Das SPD-Votum ist und bleibt falsch. Damit wird die Entscheidung der Mitglieder über die der Wähler gestellt!“, twitterte am Mittwochvormittag der Chef der Jungen Union, Philipp Mißfelder. Auch Julia Klöckner, stellvertretende CDU-Vorsitzende und Landeschefin in Rheinland-Pfalz, richtete drastische Worte an die Führung der Sozialdemokraten. „Wenn die Mitglieder zu dem ausgehandelten Koalitionsvertrag Nein sagen, dann kann die komplette SPD-Führung zurücktreten“, sagte Klöckner dem Sender Phoenix. Für sie gebe es weitere „Alternativen in Gesprächen mit den Grünen bis hin zu Neuwahlen“. Die SPD wird in den kommenden zwei bis drei Wochen mit derartiger Begleitmusik leben müssen, während sie in weiteren Regionalkonferenzen die Beschlüsse vorstellen wird. SPD-Chef Sigmar Gabriel wird schon am heutigen Donnerstag in Hofheim im Taunus auftreten, zahlreiche Termine folgen. Vom 6. bis 8. Dezember soll es noch einmal Sonderveranstaltungen in den Unterbezirken und Ortsvereinen geben. Es sind weniger die Landeschefs als die mehreren Hundert Vorsitzenden in der unteren Parteistruktur, die möglicherweise als die entscheidenden Multiplikatoren das Abstimmungsverhalten beeinflussen. Der Überzeugungskampf geht bis zum Einsendeschluss, Donnerstag 12. Dezember, 24 Uhr. Bis dahin müssen die Stimmen im Postfach des Parteivorstands eingegangen sein. Zwei Tage danach sollen alle Briefe geöffnet, alle Stimmen ausgezählt sein. Wenn die SPD Ja sagt, kann Angela Merkel am 17. Dezember erneut zur Bundeskanzlerin gewählt werden.

Bis das Abstimmungsergebnis der Genossen feststeht, wollen CDU, CSU und SPD verheimlichen, wer Minister bleibt oder wird, und ob sich am Zuschnitt der Ministerien etwas ändert. Gabriel will am Mittwoch glauben machen, Sozialdemokraten wollten ausdrücklich über Inhalte und nicht über Posten entscheiden. Als ob es für sie gar nicht von Interesse wäre, wer von ihren Spitzenpolitikern eine Große Koalition stärken, führen, inspirieren könnte. Die ungewöhnliche Mitgliederbefragung nennt Gabriel innerparteiliche Demokratie. Er will sich nicht näher dazu äußern, ob das künftig immer so bei großen Projekten der SPD sein wird.

Und wie findet die weiterhin nur geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es, dass es auch mehr als zwei Monate nach der Wahl immer noch nicht richtig losgehen kann? Die 59-Jährige antwortet in dem selten dermaßen überfüllten Saal der Bundespressekonferenz in Berlin so, als könnte sie nichts und niemand aus der Fassung bringen. „Warum soll ich denn nicht warten, die 14 Tage? Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit.“ Regierungsbildungen in anderen Ländern dauerten viel länger.

Dann verblüfft sie mit einer simplen Rechnung, mit der sie Gabriel einen großen Gefallen tut. Normalerweise entschieden weitaus weniger Menschen über einen Koalitionsvertrag als nun beim SPD-Votum, sagt Merkel. Etwa Vorstände oder Parteitage (wie es die Union macht). Das seien nicht ein paar Hunderttausend, sondern nur ein paar Hundert Menschen. Politiker seien es gewohnt, Mehrheiten zu sichern. „Insoweit ist das ein völlig normaler Vorgang.“ CSU-Chef Horst Seehofer verkneift sich hingegen nicht den Rat, Gabriel solle auf den Zustand der CSU hinarbeiten: Der Vorsitzende erläutert den Koalitionsvertrag in den Gremien und alle sind einverstanden.

Alle drei Parteichefs zeigen sich zufrieden mit dem in der Nacht ausgehandelten Kompromiss für ein gemeinsames Bündnis. Jede Seite hat etwas gewonnen und verloren. Die SPD hat den Mindestlohn bekommen, die CSU die Maut, die CDU die Mütterrente. Nicht erreicht haben die Sozialdemokraten eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft, die Christsozialen bundesweite Volksentscheide und die Christdemokraten die Deckelung der zusätzlichen Ausgaben auf 15 Milliarden Euro. Es werden acht Milliarden Euro mehr. Der große Wurf ist das Papier wohl nicht geworden. Dafür müssten zu viele Kompromisse geschlossen werden.

Der Wirtschaftsflügel der Union befürchtet Arbeitsplatzverluste, die Junge Union eine Schröpfung der Rentenkasse. Merkel macht klar, dass ihr doch schon jetzt die beschlossenen Rentenverbesserungen Kopfzerbrechen bereiten. Sie schlügen sehr stark zu Buche, die neue Regierung müsse aufpassen, dass sie die Rentenkassen nicht überfordere, mahnt Merkel.

Und auch über die Vereinbarung zur Pkw-Maut ist sie nicht glücklich. Im Wahlkampf hatte sie erklärt, mit ihr werde es keine Pkw-Maut geben. Nun soll dazu im nächsten Jahr ein Gesetzentwurf vorgelegt werden. Wenn Gesetzentwürfe gut seien, würden sie in ihrer Regierung auch verabschiedet, sagt Merkel. Es hört sich distanziert an. Seehofer sieht sich jedenfalls genötigt, zu betonen: „Wir haben die Pkw-Maut. Der Text ist ziemlich eindeutig.“

Gabriel korrigiert nach diesen Koalitionsverhandlungen seine Auffassung, dass die Schwesterparteien CDU und CSU eine Einheit seien. „Diese Kombination gibt es nicht, habe ich gelernt.“ Es gebe eine CDU und eine CSU.