Die Mitglieder werden über eine Koalition mit der Union bestimmen. Kommt die Pkw-Maut schon 2014?

Berlin/Hamburg. Das Wohl und Wehe einer Großen Koalition von Union und SPD liegt wahrscheinlich in einem großen Lastwagen verborgen. Von einem Postfach des SPD-Parteivorstands in Leipzig wird ein Lkw in der Nacht zum 14.Dezember das Urteil der 474.820 stimmberechtigten Genossen über einen schwarz-roten Koalitionsvertrag nach Berlin transportieren. Auf dem Gelände eines ehemaligen Postbahnhofs in Kreuzberg soll der Laster die Briefwahl-Unterlagen zur Auszählung anliefern. Der Ausgang ist ungewiss, doch die SPD-Spitze um Sigmar Gabriel und Olaf Scholz ist überzeugt: Sie hat es selbst in der Hand, die Weichen für einen Erfolg zu stellen.

Doch erst einmal muss der Koalitionsvertrag mit den zuletzt noch umstrittenen Punkten von den Spitzenpolitikern endgültig beschlossen werden. Die Führung der drei Parteien hatte sich am Dienstag in der SPD-Parteizentrale in Berlin zu stundenlangen Beratungen zurückgezogen, um das Kompromisspaket zu schnüren. Am Ende der Gespräche soll am heutigen Mittwoch ein Koalitionsvertrag stehen.

Schon am frühen Abend hatten sich erste Vereinbarungen abgezeichnet: Eine Pkw-Maut für Ausländer auf Autobahnen, wie von der CSU gefordert, soll womöglich schon im nächsten Jahr kommen. Die Rede ist von einer Vignette, die allerdings EU-rechtskonform ausgestaltet werden muss. Ein Gesetz soll im kommenden Jahr verabschiedet werden. Auch in der Frage des Mindestlohns ist nach Angaben aus Verhandlungskreisen ein Kompromiss gefunden worden. Knackpunkt blieb bis zuletzt die Finanzierung von neuen Leistungen bei Rente und Arbeit sowie von Investitionen in Verkehr und Energie. Zudem wollen Union und SPD die Namen für Ministerposten erst nach der SPD-Mitgliederbefragung festlegen.

Ist ein neuer Regierungsvertrag von den Spitzenpolitikern beschlossen, wird das Papier per Sonderausgabe der SPD-Zeitung „Vorwärts“ an alle Mitglieder verschickt und im Internet veröffentlicht. Eine knappe Woche haben die Sozialdemokraten Zeit, per Briefwahl abzustimmen. Kosten für die SPD: weit über eine Million Euro. Doch nicht aufgrund der Kosten regt sich Kritik gegen einen Entscheid der Mitglieder über den Koalitionsvertrag. Hamburger Spitzenpolitiker der SPD warnen vor den Folgen eines Mitgliederentscheids für demokratische Prozesse in Deutschland. Innensenator Michael Neumann und der frühere Bürgermeister Henning Voscherau sehen den anstehenden Mitgliederentscheid kritisch.

Zwar hebt Voscherau hervor, dass mehr direkte Demokratie in Deutschland anzuraten sei, sofern „die Erosion der Identifikation der Bürger mit der real existierenden Parteiendemokratie“ gestoppt werden solle. „Die Nominierung von Wahlkreiskandidaten nur durch die Basis, nicht durch Funktionäre, wäre ein gutes Mittel gegen die heutige Wagenburg aus Berufsfunktionären mit Karriereziel und Lebensstellung statt Öffnung und Transparenz“, sagte Voscherau. Dagegen hält der SPD-Politiker einen Mitgliederentscheid über Inhalte, anhand derer der Staat regiert werden soll, für problematisch. „Längst haben unsere Parteien gegenüber Parlament und seinen Mitgliedern die Oberhand gewonnen“, sagte Voscherau. Im Grundgesetz stehe das nicht. „Die Abgeordneten, die eigentlich zu entscheiden haben, sollen Vertreter des ganzen Volkes sein, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.“

Er sehe den Mitgliederentscheid als einen taktischen Zug nach innen. Nach außen sei er ein weiterer Schritt in Richtung Parteipolitik als closed shop, kritisierte Voscherau. „Wen vertritt die verschwindende Minderheit der Parteimitglieder? Von wem ist sie legitimiert? Wie soll dann überhaupt demokratische Führung möglich bleiben?“ Wer die Bürgerinnen und Bürger neu motivieren wolle, müsse ihnen konkrete Möglichkeiten der Partizipation anbieten, nicht nur seinen Mitgliedern.

Der frühere Bürgermeister von Hamburg und ehemalige SPD-Bundesbildungsminister Klaus von Dohnanyi sieht in der Entscheidung der Parteispitze für eine Abstimmung einen taktischen Fehler. „An Stelle von Parteichef Sigmar Gabriel hätte ich versucht, einen Mitgliederentscheid zu vermeiden“, sagte von Dohnanyi. „Natürlich war der Druck auf die Parteispitze der SPD groß.“ Aber eine Abstimmung aller Sozialdemokraten über eine Koalition mit der Union werde stark von Emotionen und gelegentlich auch von kurzsichtigen Interessen einiger Gruppen an der Basis getragen. „Viele Mitglieder, die im Prinzip einer Koalition mit CDU und CSU zustimmen, laufen Gefahr, im Kanon der lauten Kritik zu verstummen.“

Offenbar ist das Unbehagen vieler SPD-Mitglieder über ein schwarz-rotes Bündnis groß. Nach Recherchen des „Spiegels“ scheint in 18 Bezirks- und Kreisverbänden sowie 26 Ortsvereinen eine Mehrheit für die Große Koalition fraglich. Das Blatt wenden will die Parteispitze mit mindestens 32 Regionalkonferenzen in allen Bundesländern von Donnerstag an – einen Tag nach der erwarteten Vorlage eines Koalitionsvertrags. SPD-Chef Sigmar Gabriel wird im Taunus erwartet, um für ein schwarz-rotes Regierungsbündnis zu werben. Erfahrene SPD-Persönlichkeiten aus Hamburg monieren das Vorgehen der eigenen Partei. Und dennoch ist klar: Der Entscheid der Mitglieder über einen Koalitionsvertrag mit der Union wird kommen. Den Schlüssel zur Zustimmung liegt aus Sicht vieler Sozialdemokraten in den Verhandlungen. „Die Mitglieder werden nur zustimmen, wenn das Verhandlungsergebnis den Kriterien des Parteikonvents entspricht“, sagte der schleswig-holsteinische SPD-Chef Ralf Stegner. „Ein substanzieller Politikwechsel muss sich an ein paar Punkten festmachen.“

In zwei für Unternehmen wichtigen Fragen setzte sich die Union überraschend noch durch: Die Gehälter von Managern sollen nicht gedeckelt werden. Zudem ließen die Koalitionäre in spe die Idee fallen, einen politisch kontrollierten Fonds zur Finanzierung der Abrisskosten für Atomkraftwerke einzurichten. In diesen hätten die Betreiber Teile ihrer Rückstellungen für die Entsorgungskosten einzahlen müssen. In der Frage der Gleichstellung homosexueller Paare hat die Union offenbar nachgegeben. In einem Entwurf wird zwar das Adoptionsrecht nicht ausdrücklich erwähnt, aber es heißt: „Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden.“