Der Vorsitzende beschreibt selbstkritisch die Lage der SPD. Ernüchtert wählen ihn die Genossenmit 83,6 Prozent der Stimmen wieder an ihre Spitze

Leipzig. Sie bleiben sitzen. Sie jubeln nicht. Sie halten ihren Applaus bescheiden. Eineinhalb Stunden verfolgten die rund 600 Delegierten die Rede Sigmar Gabriels. Nachdem der SPD-Vorsitzende seine Schlussworte gesprochen hat, verlässt er fast fluchtartig das Rednerpult, eilt die paar Meter zu seinem Platz auf der Bühne. Nur zweimal erhebt er sich, während der allenfalls freundliche Beifall zu vernehmen ist. Ein, zwei Sekunden winkt Gabriel ins Plenum. Das war’s.

„Nicht so kämpferisch“ werde seine Rede ausfallen, hatte Gabriel gleich zu deren Beginn angekündigt. Wer Gabriel kennt, weiß, wie schwer ihm solch eine verbale Zurückhaltung fällt. Zumal für den seit vier Jahren amtierenden Parteichef in diesen Tagen und Wochen so viel auf dem Spiel steht wie vielleicht noch nie in seinem politischen Leben. Der Parteitag in Leipzig fällt in eine Art politisches Vakuum: Die Koalitionsverhandlungen laufen, wenig ist bisher mit der Union vereinbart worden – und doch muss Gabriel für jenes Vernunftbündnis werben. Er kann aber ebenso wenig die Delegierten verprellen, nach seiner Rede will er als Parteivorsitzender bestätigt werden.

Auf die Gratwanderung zwischen Selbstkritik und Selbstbewusstsein also begibt sich Gabriel vor seiner Partei in der großen Halle der Leipziger Messe. Hier war die SPD zuletzt im Frühling 1998 zusammengekommen. Damals feierte sie einen Kanzlerkandidaten namens Gerhard Schröder. „Die Kraft des Neuen“ – dieses Motto prangte vor 15 Jahren an der Stirnwand der Halle. Heute ist in großen Lettern nur das Motto „SPD-Bundesparteitag Leipzig 2013“ zu lesen.

„Es gibt nichts zu beschönigen“, sagt Gabriel über das Ergebnis der Bundestagswahl. So oder so ähnlich beschreibt er die Lage der eigenen Partei. Etwas verschnupft klingt Gabriel dabei, rein physisch natürlich, er schnäuzt sich die Nase und bekennt: „Die politische Gesamtverantwortung für unser Wahlergebnis trägt immer der Vorsitzende.“ Kurz zuvor schon übernahm der gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Verantwortung für das Debakel vom 22. September. Offen gelte es über die Niederlage zu sprechen, sagt Gabriel – und mutet seiner Partei allerhand zu. Es ist der erste, sehr ausführliche Teil seiner Rede, erst später geht er auf die mögliche Große Koalition ein.

Den „schnellen Erklärungen“ für die Niederlage gelte es zu misstrauen, sagt Gabriel. „Die Deutschen wählten Stabilität und Sicherheit“, sagt er, und dies sei „Angela Merkel zugetraut worden und weniger uns“. Viele Menschen seien mit der wirtschaftlichen Lage zufrieden, ruft der Vorsitzende seiner Partei zu, die dazu neigt. „Ich weiß, bei der Rede ist es schwer zu applaudieren“, sagt Gabriel, während nur einzelne Delegierte Beifall klatschen. „Ist aber nicht schlimm“, fügte er mit ruhiger Stimme hinzu. Das klingt wie eine Selbstvergewisserung.

Gabriel weiß, wie sehr die Delegierten ihm und der Parteispitze misstrauen, wie ausgeprägt die Vorbehalte gegenüber einer Großen Koalition sind. Er spricht das aus, redet von der Sorge, „dass wir in einer Großen Koalition wieder Dinge tun werden, die dem inneren Selbstverständnis der SPD widersprechen“. Um diese Bedenken zu zerstreuen, hat Gabriel früh ein Mitgliedervotum über die Koalitionsvereinbarung zugesagt.

Doch auch heute kann er dieses Misstrauen allenfalls minimieren. Bei seiner Aufzählung dessen, was die SPD in einer Koalition alles erreichen kann, fehlt ein Begriff: Steuererhöhungen nämlich. 15 Punkte listet er auf, von „fairen Bedingungen am Arbeitsmarkt“ bis zur Energiewende. Doch Gabriel hüllt nicht etwa einen Mantel des Schweigens über die geringe Aussicht, Steuererhöhungen durchzusetzen. In der Steuerpolitik „wird es mit der CDU/CSU keinen Konsens geben“, sagt Gabriel: „Und dieser Dissens wird bleiben.“ Angela Merkel sei „über Nacht nicht zur Sozialdemokratin geworden. Deshalb darf niemand von ihr erwarten, dass sie das SPD-Wahlprogramm unten rechts unterschreibt und zum Koalitionsvertrag erhebt.“

Der Vorsitzende macht es seiner Partei nicht leicht. Gabriel hält eine Rede, die alles andere ist als opportunistisch. Dabei wäre es so leicht gewesen, gegen Schwarz-Gelb zu poltern oder mit kleinen Giftpfeilen auf Merkel zu zielen. Dafür gäbe es billigen Beifall in der Leipziger Messe. Gabriel, der doch so gern geliebt werden will, verzichtet darauf.

Stattdessen wirbt der Parteichef für jenes Regieren mit der Union, das hier im Saal so unbeliebt ist. Willy Brandt zu zitieren, was Gabriel gleich viermal tut, das kann Brücken bauen. Kompromisse seien das Wesen der Politik, leitet Gabriel sein Plädoyer ein: „Die SPD darf nicht zu einer Partei werden, die aus Angst vor den Mühen der Arbeit in einer ungeliebten Koalition die Chance verpasst, im realen Leben für andere Dinge besser zu machen.“

Das erwartbare Bündnis mit der Union – Gabriel nennt es eine „befristete Koalition der nüchternen Vernunft“. Zweimal geißelt er die Basta-Politik, die in der eigenen Partei einst herrschte; es ist eine etwas wohlfeile Abkehr von der Regierungsmethode à la Franz Müntefering. Wie schon vor vier Jahren – zu seinem Amtsantritt als SPD-Vorsitzender – arbeitet sich Gabriel an dem Motto „Erst das Land, und dann die Partei“ ab. „Diesen Satz sollten wir aus dem politischen Wortschatz streichen“, ruft Gabriel in den Saal.

Nur kurz und ganz am Ende seiner Rede widmet sich Gabriel dem Leitantrag. Außer mit rechtsextremen Parteien will die SPD künftig keine Koalitionen mehr ausschließen. Jenseits parlamentarischer Mehrheiten plädiert der Parteichef für „gesellschaftliche Reformbündnisse“. Schnell haspelt er herunter: „Natürlich auch mit undogmatischen Linken innerhalb und außerhalb anderer progressiver Parteien in Deutschland und Europa.“ Gabriel legt eine Kunstpause ein. Langsam fügt er hinzu: „Ja, auch mit der Linkspartei. Aber Vorsicht: Machen wir uns keine Illusionen.“ Schon in der Vergangenheit habe es immer wieder rot-rote Gespräche gegeben – stets mit dem Ergebnis, dass man keine Regierung bilden könne. Der Schlüssel für eine Koalition liege „nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern in dem Haus, das den Namen Karl Liebknechts trägt“.

Am späten Nachmittag wird der Niedersachse für weitere zwei Jahre an der Parteispitze bestätigt. Höflicher Beifall brandet auf, als das Wahlergebnis bekannt gegeben wird. 83,6 Prozent der Delegierten haben für Gabriel votiert – vor zwei Jahren waren es noch 91,6. Da tritt der alte und neue Vorsitzende noch einmal ans Rednerpult. In dieser Situation, sagt Gabriel, sei das Ergebnis „außerordentlich ehrlich“. Die SPD gewährt ihm Verantwortung mit beschränkter Haftung.