Das Familienpapier der evangelischen Kirche erntet viel Kritik. Bei der EKD-Synode versucht der Ratsvorsitzende, die Basis mitzunehmen

Düsseldorf. Wie tief die jüngste Austrittswelle von Gläubigen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) trifft, zeigt der Vize-Präsident des Kirchenparlaments zum Auftakt der EKD-Jahrestagung in Düsseldorf. Günther Beckstein hebt ein großes Schild mit der Telefonnummer der „Wiedereintrittshotline“ in die Höhe und wirbt um deren Veröffentlichung.

Nach dem Wirbel um den Vorwurf der Geldverschwendung gegen den katholischen Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst laufen überraschenderweise auch der evangelischen Kirche die Mitglieder in Scharen davon. Die EKD ist über diesen, von den Katholiken angerichteten Flurschaden nicht begeistert. „Wir haben in der Tat deutlich steigende Zahlen“, sagt Beckstein, auch in seiner Heimatstadt Nürnberg treten sowohl Protestanten wie auch Katholiken vermehrt aus der Kirche aus. „Mich schmerzt jeder einzelne dieser Austritte.“ Wer seinen Irrtum bemerke, wegen des Falls Limburg aus der evangelischen Kirche ausgetreten zu sein, möge sich an die Hotline wenden, bittet Beckstein.

Dabei steht zum Auftakt des viertägigen Kirchentreffens das neue Familienbild der EKD auf der Tagesordnung. Die Protestanten hatten im Sommer mit einem sogenannten Familienpapier heftige Kritik in den eigenen Reihen hervorgerufen und auch die Katholiken vor den Kopf gestoßen. Denn die klassische Ehe soll laut der Denkschrift nicht mehr alleinige Norm sein, homosexuelle Partnerschaften und Patchworkfamilien werden im Familienpapier aufgewertet.

In seinem mit Spannung erwarteten Bericht versucht der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider die Basis mitzunehmen, stellt aber auch klar: Trotz harscher Kritik auch aus den eigenen Reihen will die EKD nicht vom neuen Familienbild abrücken. Es gehe nicht um eine Abkehr von der klassischen Ehe, sondern um mehr Wertschätzung auch für Alleinerziehende, Patchworkfamilien und homosexuelle Partnerschaften, sagt er. Die Ehe bleibe das Leitbild der Kirche, sei aber nicht der einzige Weg zum Glück. Sie biete zwar für viele Menschen ein besonderes Glückspotenzial. „Aber die Institution Ehe garantiert nicht die Realisierung dieses Glücks – so wenig wie irgendeine andere Form familiären Zusammenlebens“, sagt Schneider.

„Wir betonen als evangelische Kirche die Wertschätzung der Ehe zwischen Mann und Frau, wir machen Mut zur lebenslangen Ehe und verstehen sie als Leitbild.“ Allerdings könnte es auch in anderen Partnerschaften Vertrauen, Liebe und Verantwortung geben. „Auch in ihnen kann der Segen Gottes erwartet und erfahren werden.“

Schneider räumt auch Schwächen im Familienpapier ein – und kündigt einen Grundsatztext zum evangelischen Verständnis der Ehe an. Eine Expertenkommission soll ihn unter Beachtung theologischer Grundfragen erarbeiten. „Ein positives Weiterdenken bei einigen Personen“, lobt ein Synodaler.

„In der Bibel lesen wir, dass homosexuelle Praktiken verurteilt werden“, sagt der EKD-Chef und nennt ein Beispiel für seine Argumentation. In der Bibel stehe aber auch: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Schneider führt aus: Eine pauschale Verurteilung homosexueller Beziehungen widerspreche diesem Geist der Liebe. Ob Schneiders Klarstellungen die evangelische Kirche wieder zur Ruhe bringen wird, bleibt abzuwarten. Denn im Grundsatz bleibt er dabei, die Bibel im Kontext ihrer Zeit zu bewerten.

Wie das Kirchenparlament über das Papier denkt, ob den Kritikern das Entgegenkommen des Ratsvorsitzenden weit genug geht, bleibt am Sonntag zunächst unklar. Vor der Aussprache über Schneiders Bericht gibt es erst eine ausgiebige Mittagspause, dann folgt die turbulente Präses-Wahl (siehe rechts) – erst danach steht die Familiendebatte auf der Tagesordnung.

In seinem Bericht betont Schneider – angesichts von Kritik an staatlichen Geldzahlungen an die großen Kirchen – deren soziales Engagement. Wenn die Kirche staatliche Pflichtaufgaben wie Kindertagesstätten oder Schulen erbringe, übernehme der Staat Teile der Kosten wie bei anderen freien Trägern auch. „Die Kirche entlastet vielmehr den Staat, weil sie auch eigene Mittel einbringt.“

Mehr Hilfe fordert der EKD-Chef für Flüchtlinge aus Syrien. Angesichts der Lage in dem Bürgerkriegsland und den Flüchtlingslagern seien Teile der deutschen Flüchtlingsdebatte und das abweisende Verhalten mancher Teile der Bevölkerung beschämend.

Während der Synode soll es zudem um ein neues Arbeitsrecht für Kirchen- und Diakoniebeschäftigte gehen, das Gewerkschaften mehr Mitwirkungsrechte zubilligt. Die 20 Landeskirchen sollen künftig wählen können, ob klassische Tarifverträge ausgehandelt werden oder wie bisher der „dritte Weg“ beschritten wird, bei dem Kommissionen Bezahlung und Arbeitsbedingungen aushandeln. In beiden Fällen soll es nach Vorstellung der EKD weiter kein Streikrecht geben. Die Kirche will so die Vorgaben umsetzen, die das Bundesarbeitsgericht ihr gemacht hat.