Angela Merkel hat dem US-Präsidenten noch nie vertraut. Zwar beteuert der Chef des Weißen Hauses, das Abhören ihres Handys sei ohne sein Wissen geschehen. Doch die Kanzlerin will sichergehen

Berlin. Der US-Lauschangriff auf Bundeskanzlerin Angela Merkel hat offenbar weitaus größere Ausmaße als angenommen. US-Präsident Barack Obama sei bereits 2010 von NSA-Chef Keith Alexander persönlich über den Lauschangriff informiert worden und habe später ein umfassendes Dossier über die Kanzlerin angefordert, berichtet die „Bild am Sonntag“. Auch das für abhörsicher gehaltene dienstliche Mobiltelefon Merkels, das sie erst in diesem Sommer bekam, sei geknackt worden. Dem „Spiegel“ zufolge stammt der Auftrag für die Ausspähung Merkels aus dem Jahr 2002, als sie noch in der Opposition saß. Die Anordnung habe offenbar auch noch wenige Wochen vor dem Besuch Obamas in Berlin in diesem Sommer gegolten. Unklar sei aber, ob alle Gespräche mitgeschnitten oder Verbindungsdaten erfasst worden seien.

Der US-Präsident gerät damit unter immer größeren Erklärungsdruck: Noch am Mittwoch soll er sich in einem Telefonat bei Merkel entschuldigt und versichert haben, nichts von einer Abhöraktion gewusst zu haben. Unterdessen verschärft sich der Ton auch im Umfeld Merkels. Unionsfraktionschef Volker Kauder kritisierte „Weltmachtgehabe“ der USA. Die SPD schloss sich der Forderung der Opposition nach einem Untersuchungsausschuss an.

Angela Merkel hat Barack Obama noch nie vertraut. Das hat sich die Kanzlerin eines lange Jahre geradezu obamabesoffenen Landes lange nicht anmerken lassen. Nirgendwo war der erste schwarze Präsident der USA so populär wie in Deutschland: Selbst nach seiner ersten, sehr durchwachsenen Amtszeit hätten ihn laut einer Umfrage noch 87 Prozent der Deutschen gewählt. Die Begeisterung war partei-übergreifend, Linke und Liberale zeichneten ihn als Gegenbild zu seinem hierzulande geradezu verteufelten Vorgänger George W. Bush, aber auch in Merkels CDU war man hingerissen, eine „enorme Ermunterung“ nannte ihn etwa Norbert Röttgen 2008. Nur Merkel schwieg eisern. Nur einmal kommentierte sie gallig: „Auf Bush konnten wir uns immerhin verlassen – er hat uns nie belogen.“

Der Satz ist Jahre alt, aber heute klingt er wie eine Prophezeiung. Denn genau diese Frage stellt sich jetzt: Obamas Geheimdienst hat jahrelang ein Mobiltelefon überwacht, über das Merkel den überwältigenden Teil ihrer SMS verschickte und viele ihrer Telefonate führte. Am Mittwoch, als die Kanzlerin den Präsidenten damit persönlich konfrontierte, beteuerte er, davon nichts gewusst zu haben. Auch seine Sicherheitsberaterin, Susan Rice, behauptete dies gegenüber Christoph Heusgen, dem außenpolitischen Chefberater Merkels. Im offiziellen Statement des Weißen Hauses – „Wir überwachen die deutsche Kanzlerin nicht und werden sie nicht überwachen“ – schwang mit: Die Überwachung in der Vergangenheit war ein Versehen.

Wie glaubhaft ist das? „Die größere Nachricht wäre es“, sagte Mike Rogers, Vorsitzender des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, „wenn die USA keine Aufklärung mehr betrieben.“ Die Frage, ob er es für angemessen halte, dass die USA das Handy der Kanzlerin des eng verbündeten Deutschland aushorchen, umtänzelte der republikanische Abgeordnete aus Michigan am Sonntag in der CNN-Sendung „State of the Union“. Aber er war erkennbar wenig alarmiert über die NSA-Aktivitäten, die in Europa und speziell Berlin derzeit für so großen Unmut sorgen.

Merkel hält Obama schon seit Langem für einen schwierigen Bündnispartner

Die Debatte um den Lauschangriff auf Merkel war am Sonntag in den US-Medien längst von anderen Themen in den Hintergrund gedrängt worden. In der „New York Times“ wurde schon am Freitag spekuliert, Obama habe von diesen geheimdienstlichen Aktivitäten nichts gewusst. Das steht im Widerspruch zum Artikel der „Bild am Sonntag“. Es ist schwierig einzuschätzen, wofür Merkel Obama mehr verachten würde: dafür, dass er sie angelogen hat, oder dafür, dass er seine Geheimdienste nicht im Griff hat. Beides dürfte sich aber in ihr Bild vom mächtigsten Mann der Welt fügen: ein äußerst schwieriger Bündnispartner. Dafür hält Merkel Obama schon seit Langem. Die Machttechnikerin Merkel, die ihre Politik am liebsten als alternativlos darstellt, hegte von Beginn an Vorurteile gegen einen messianisch wirkenden Politiker, der mit Auftritt und Rhetorik kaum zu erfüllende Erwartungen schaffte. Obama bestätigte diese Einschätzung mehrfach. Etwa als er vor dem Sturz des libyschen Diktators Gaddafi gegen den Rat seiner Militärs und erfahrenen außenpolitischen Berater in letzter Minute umschwenkte und doch amerikanische Bomber losschickte, um einen Völkermord zu verhindern. Den Deutschen war vorher das Gegenteil signalisiert worden, Merkel machte die schroffe Kehre nicht mit, und Deutschland isolierte sich im Weltsicherheitsrat von den westlichen Verbündeten. Beim wenig später stattfindenden G8-Gipfel im französischen Deauville rief Obama die mit den USA kämpfenden Briten, Franzosen und Italiener nach dem offiziellen Teil zum „Kriegsrat“, nachdem Merkel das Gebäude verlassen hatte.

Ein Manöver, das Obama in diesem Jahr wiederholte. Beim G20-Treffen im russischen St. Petersburg warteten die Amerikaner, bis Merkels Regierungsjet wieder in der Luft war, und brachten dann Spanier und Italiener dazu, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der dem im Bürgerkrieg Chemiewaffen einsetzenden syrischen Diktator Baschar al-Assad Konsequenzen angedroht wurden. Merkel hatte die Europäer davon abhalten wollen, bis man eine einheitliche europäische Linie gefunden habe. Die Kanzlerin war wieder isoliert und blamiert.

Auch in der Euro-Krise versuchte Obama sie – in ihrer Wahrnehmung – mehrfach auszutricksen: So argumentierten die Amerikaner nicht nur gegen Merkels Politik von „Sparen und Reformieren“, sondern griffen selbst in die Meinungsbildung der Europäer ein – gegen Merkel. Auf dem G20-Gipfel im mexikanischen Los Cabos 2012 trommelte Obama plötzlich alle anwesenden Europäer zu einem Extra-Termin zusammen. Die Kanzlerin war nicht vorgewarnt worden, ihr italienischer Gegenspieler aber schon: Mario Monti präsentierte ein gemeinsam mit Obama verfasstes Papier, das auf eine Aufweichung der merkelschen Sparpolitik in der Euro-Zone hinauslief.

Doch auch Merkel hat Obama auf internationaler Bühne oft nicht wie einen Hauptverbündeten behandelt: Im Dauerstreit der Amerikaner mit ihren chinesischen Rivalen über Exportüberschüsse schlug sie sich ganz offen auf die Seite der aufstrebenden Großmacht und lobte China als „guten Begleiter unserer Haushaltspolitik“. Die Botschaft: China versteht uns, ihr nicht! Dabei gehört eine persönliche Amerika-Begeisterung immer noch zur Inszenierung von Merkels Person. Tatsächlich reiste sie nach der Wende schnell in die USA, tatsächlich erschien ihr die tiefe Freiheitsliebe der Amerikaner damals attraktiver als das Urvertrauen der Westdeutschen in den Sozialstaat. An dieses Bild der Herzens-Amerikanerin konnte sie mit Obama nur einmal anknüpfen: 2009 reiste sie nach Washington, um im Weißen Hause die „Medal of Freedom“, den höchsten Orden für Nichtamerikaner, aus Obamas Hand in Empfang zu nehmen. Die Inszenierung der Freundschaft gelang – auch wenn Merkel so schnell abreiste, dass ihre Delegation Smoking und Abendkleider erst im Flieger wechseln konnte.

Bisher legte Merkel großen Wert darauf, sich nichts von ihrer Skepsis gegenüber Obama anmerken zu lassen. Merkel weiß, dass sie und Obama auch weiterhin in vielen Fragen aufeinander angewiesen sind. Sie setzt große Hoffnungen auf das Freihandelsabkommen, das die EU derzeit mit den USA zu verhandeln beginnt. Auch jetzt noch, unter dem Eindruck der Spähaffäre, versuchen ihre Leute, das Freihandelsabkommen aus der Debatte herauszuhalten. Auf keinen Fall soll es ausgesetzt werden.