Angela Merkel protestiert jetzt als Betroffene gegen die Abhörpraxis der USA

Berlin. Eigentlich war der Skandal doch schon gar nicht mehr da. In Berlin regte sich längst niemand mehr auf, wenn er in den vergangenen Wochen von einer neuen Episode der internationalen Abhöraffäre um die amerikanische National Security Agency (NSA) hörte. Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) schien mit seiner Einschätzung von August recht zu behalten: „Vom Tisch“ war die Affäre für ihn. Das stimmte. Bis Mittwochabend, 19 Uhr, als das Kanzleramt eine Pressemitteilung herausgab, die politischer Sprengstoff ist: Es gibt Hinweise, dass das Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von US-Nachrichtendiensten überwacht wurde.

Schnell telefonierte Merkel mit US-Präsident Obama. Sie habe klargemacht, dass sie solche Praktiken – wenn sich die Hinweise bewahrheiten sollten – „unmissverständlich missbilligt und als völlig inakzeptabel ansieht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Unter engen Partnern dürfe es eine Überwachung der Kommunikation eines Regierungschefs nicht geben. In der Sprache der Diplomatie kann man kaum deutlicher werden. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wurde sie noch deutlicher: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ Das Weiße Haus seinerseits erklärte: „Der Präsident hat der Kanzlerin versichert, dass die Vereinigten Staaten ihre Kommunikation nicht überwachen und auch nicht überwachen werden.“ Über die Vergangenheit war damit nichts gesagt. Spätestens jetzt musste als gesichert gelten, dass amerikanische Geheimdienste die deutsche Kanzlerin ausgespäht haben.

Möglicherweise wurden auch Telefone von Kabinettsmitgliedern überwacht

Ronald Pofalla lag dann wohl doch daneben. Mit einem Mal ist die NSA-Affäre wieder da. Und wie.

Die Kanzlerin besetzt in dieser Auseinandersetzung zwei Rollen. Zum einen ist sie das Opfer eines Lauschangriffs. Allerdings macht Merkel mit ihrem Anruf in eigener Sache bei Obama auch deutlich, dass ihre Regierung nahezu tatenlos auf die Enthüllungen über das Ausspähen der breiten Bevölkerung reagierte. Grundrechte waren nicht mehr so wichtig. Es musste erst so weit kommen, dass ihr Handy zum Angriffsziel wird, bevor sie einschreitet. Das gute Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den USA wird auf die Probe gestellt. Politik und Justiz reagieren empört – auf mehreren Ebenen.

Die Bundesregierung prüft ihre Handys und kann dabei nicht ausschließen, dass auch die Kommunikation anderer Kabinettsmitglieder überwacht wurden. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bestellte den US-Botschafter ein – eine diplomatische Ohrfeige. Die Bundesanwaltschaft legte mit Bekanntwerden der Vorwürfe einen sogenannten Beobachtungsvorgang an. Die Linkspartei fordert bereits einen Untersuchungsausschuss. „Die Zeit der Vertuschung ist vorbei“, sagte Linken-Chefin Katja Kipping. Die Linke werde nun schnell einen entsprechenden Antrag in den Bundestag einbringen und hoffe auf die Unterstützung von SPD und Grünen. Die reagierten jedoch zurückhaltend. Innenexperte Konstantin von Notz forderte zunächst lediglich die Ernennung eines Beauftragten für eine umfassende Aufklärung der Affäre rund um die Dienste.

Für Merkels Mannschaft und die Sicherheitsbehörden hat die jetzige Lage eine peinliche Note. Seibert hatte zwar schon im Sommer einmal protestiert, als berichtet wurde, dass die NSA diplomatische Vertretungen der Europäischen Union und einzelner Länder ausspähe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel“, sagte Seibert damals. Und: „Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg.“ Aber dabei blieb es. Obwohl der Verdacht nie widerlegt wurde, beschwerte sich die Regierung nie lauthals bei den USA, sondern betonte vielmehr die enge Partnerschaft. In Berlin bestellte man damals keinen Botschafter ein, Merkel griff nicht umgehend zum Telefonhörer. Statt den Enthüllungen über Grundrechtsverstöße nachzugehen, schenkte die Regierung mit der NSA lieber einer Behörde Glauben, von der bereits bekannt war, dass sie das eigene Parlament in den USA über die Ausspähpraktiken belogen hatte.

So ging es weiter – bis zu einer Journalistenfrage, die nun alles auslöste. Reporter des „Spiegel“ hatten das Kanzleramt vor Tagen mit dem Verdacht konfrontiert, ein Mobiltelefon der Bundeskanzlerin sei von amerikanischen Diensten überwacht worden. Merkel ließ daraufhin Experten den Verdacht prüfen, die am Mittwochmorgen zu dem Ergebnis kamen: Aufgrund des vorliegenden Materials sei dies tatsächlich nicht auszuschließen.

Daraufhin ließ sich Merkel sofort einen Telefontermin beim amerikanischen Präsidenten geben. Wegen der Zeitverschiebung schlief Obama freilich noch: Erst um 17 Uhr Berliner Zeit (11 Uhr morgens in Washington) könne der Präsident mit der Kanzlerin sprechen, signalisierte das Weiße Haus. Merkel lud daraufhin noch am Mittag die Vorsitzenden des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Thomas Oppermann, SPD, und seinen Stellvertreter Michael Grosse-Brömer (CDU) ein, um 17.30 Uhr ins Kanzleramt zu kommen. Vorher absolvierte sie noch in ihrer Parteizentrale ungerührt die erste Runde der Koalitionsverhandlungen mit der SPD. Um 19 Uhr am Mittwoch war die Geschichte in der Welt.

Am Donnerstagmorgen verständigten sich Parteien und Fraktionen auf ihre Sicht der Dinge: Auffällig war, wie sehr die SPD ihren künftigen Koalitionspartner schonte. Kein Sozialdemokrat wollte auf die harte Anschuldigung des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück Bezug nehmen, der Merkel im Wahlkampf vorgeworfen habe, in der NSA-Affäre ihren Amtseid verletzt zu haben, weil sie nicht Schaden von Deutschland abgewendet habe. In der Union war nun auch klar, dass vor allem Pofalla schnell ins Zentrum der Kritik rücken werde. Abgeordnete und Sprecher unternahmen nun recht hoffnungslos den Versuch, seine damalige Äußerung zu interpretieren: Pofalla habe nur bestimmte Aspekte der Affäre für beendet erklärt. Und Pofalla musste am Nachmittag dem Parlamentarischen Kontrollgremium Bericht erstatten.

Nach der Sitzung sagte er, alle mündlichen und schriftlichen Aussagen der NSA würden erneut überprüft. Kommende Woche fliegt eine Regierungsdelegation in die USA. Nein, diese Affäre ist nicht zu Ende. Das hat nun auch Pofalla eingesehen.