Bundestag kommt zur ersten Sitzung zusammen. Präsident Lammert bekommt sechs Stellvertreter. Opposition fürchtet um ihre Rechte

Berlin. Die konstituierende Sitzung des 18. Deutschen Bundestags schwankte zwischen Feierlichkeit und Streit. Noch haben Union und SPD keine Regierung gebildet, aber an der ersten Abstimmung der Legislatur war abzulesen, wie eine überwältigende parlamentarische Mehrheit eine sehr kleine Opposition auflaufen lassen kann. Union und SPD beschlossen am Dienstag gemeinsam, die Zahl der Stellvertreter des wiedergewählten Bundestagspräsidenten Norbert Lammert von bisher fünf auf sechs zu erhöhen. Dagegen gab es deutlichen Protest in einer ansonst heiteren, dennoch feierlichen Sitzung – zum ersten Mal ohne Abgeordnete der FDP.

Am Dienstagmorgen strömten die Parlamentarier in den Saal. 631 wurden am 22. September gewählt, das sind elf mehr als zum Ende der vergangenen Wahlperiode. Den einstigen Gang zwischen FDP- und Unionsfraktion gab es nicht mehr, die ganze rechte Plenarseite füllten die mehr als 300 Abgeordneten von CDU und CSU. Angela Merkel schlüpfte Punkt 11 Uhr auf einen Platz in der ersten Reihe des Plenums, nicht auf die Regierungsbank. Die Kanzlerin und ihr Kabinett sind mit der Zusammenkunft des Bundestags nur noch geschäftsführend im Amt. Die FDP-Minister waren der Einladung des Bundestages für ehemalige Parlamentarier nicht gefolgt. Nur vereinzelt nahmen einstige liberale Abgeordnete auf der Tribüne Platz, darunter der frühere Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms: „Ich bin schon betroffen, aber wir sind ja nicht unschuldig in diese Situation gekommen.“

Heinz Riesenhuber (CDU), mit 77 Jahren Alterspräsident, eröffnete launig die Sitzung, begrüßte Bundespräsident Joachim Gauck sowie Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Nach rund anderthalb Stunden war der alte und neue Bundestagspräsident mit sehr gutem Ergebnis wiedergewählt. „Ich empfinde dies als Ermutigung und Verpflichtung“, dankte der 64-jährige Norbert Lammert (CDU) ein wenig gerührt. Der 12. Bundestagspräsident wurde auch diesmal wie gewohnt deutlich: Der Bundestag nehme seine Arbeit selbstverständlich vor dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen auf, schließlich gebe es parlamentarische Hausaufgaben. Lammert mahnte einen selbstbewussten Aufbruch in die neue Legislatur an. „Ein Parlament ist keine Versammlung von Helden und Heiligen, sondern von Volksvertretern“, rief er und forderte eindringlich den Respekt vor der anderen Meinung. Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie werde auch dadurch deutlich, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen, sagte der Parlamentspräsident mit nachdenklichem Blick auf die schmalen Reihen der Opposition.

Gregor Gysi kann das Problem seiner Linken-Fraktion besonders schön zusammenfassen, vor allem das Problem mit der künftigen Verteilung der Redezeiten: „Da sind wir schon eingeschlafen, bevor wir überhaupt dran sind.“ Was er so flapsig formuliert, treibt Verfassungsrechtler, Demokratieforscher und Oppositionspolitiker derzeit um. Es geht darum, wie die Rechte der kleinen Opposition aus Linkspartei und Grünen gegen die geplante übermächtige Koalition aus CDU, CSU und SPD gerettet werden können. Zusammen stellen Linke und Grüne nur gut 20 Prozent der 631 Abgeordneten im neuen Bundestag – so wenig wie seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr. Und damit zu wenig, um eine ernst zu nehmende parlamentarische Kontrolle der künftigen Bundesregierung zu bewerkstelligen.

So ist diese Opposition etwa zu klein, um einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu können. Nach dem Grundgesetz sind dafür 25 Prozent der Abgeordnetenstimmen erforderlich. Das Gleiche gilt für andere Minderheitenrechte im Parlament sowie für das Recht der Opposition, ein Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, wenn sie es für verfassungswidrig hält. Union und SPD haben sich schon vor einigen Tagen beeilt zu versichern, dass sie die Rechte der Opposition durch entsprechende Vereinbarungen sichern wollen. Unklar ist dabei aber, wie weit die Zugeständnisse auf freiwilliger Basis gehen werden. Die Union sperrt sich etwa dagegen, das Grundgesetz zu ändern.

Und auch die Opposition ist sich nicht einig über das weitere Vorgehen: Gysi verlangt eine Verfassungsänderung. Demnach soll für die Wahrnehmung der Minderheitenrechte grundsätzlich ein einstimmiges Votum der Oppositionsfraktionen ausreichen – ganz gleich, wie groß diese sind. Die Grünen indes wollen die Verfassung zunächst nicht antasten und stattdessen einfache Gesetze sowie die Bundestags-Geschäftsordnung ändern.

Sollten die bisherigen Regelungen unverändert in Kraft bleiben, dann wären spannende Redeschlachten im Parlament in Zukunft eine Rarität: Denn nach den geltenden Regeln hätten etwa in einer einstündigen Bundestagsdebatte die Grünen und die Linkspartei jeweils einen Redeanteil von gerade einmal sechs Minuten, auf die Union und SPD entfielen aber zusammen 48 Minuten. Statt des parlamentarischen Prinzips von Rede und Gegenrede hielte „die Regierung einen Monolog mit sich selbst“, kritisierte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter.

Vorerst gilt aber weiterhin die bisherige Geschäftsordnung. Die Fraktionen von Linkspartei und Grünen haben ihr in der konstituierenden Sitzung zugestimmt, nachdem Lammert weitreichende Änderungen versprochen hatte, sobald die Große Koalition tatsächlich steht. Diese Zusage bekräftigte Lammert vor dem neuen Plenum: Die Minderheit müsse jede Möglichkeit haben, ihre Einwände, Vorschläge und Alternativen zur Geltung zu bringen. Lammert zeigt sich für eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags „oder einschlägiger gesetzlicher Regelungen“ offen. Damit schließt er auch eine Reform des Grundgesetzes nicht aus. An diesem Mittwoch will er sich ausführlicher zu dieser äußerst schwierigen Materie äußern.