Notbremse in letzter Minute. Renate Künast zieht ihre Kandidatur zurück. Jetzt ist die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen nur noch einfache Abgeordnete

Berlin. Es war 11.30 Uhr, als die Nachrichtenagenturen am Dienstag den Tiefpunkt einer politischen Karriere vermeldeten: Renate Künast, Ex-Verbraucherschutzministerin, Ex-Fraktionsvorsitzende, Ex-Spitzenkandidatin im Bund und Ex-Spitzenkandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin, wird von jetzt an nur noch eine von 631 Bundestagsabgeordneten sein.

„Die Welt wartet nicht auf diese Abstimmung“, das soll die 57-Jährige ihren Fraktionskollegen zur Begründung gesagt haben, warum sie nun plötzlich doch nicht mehr gegen Claudia Roth um die Nominierung als Bundestagsvizepräsidentin in den Ring steigen wollte. Man tritt Renate Künast nicht zu nahe, wenn man unterstellt, dass sie mit dieser Notbremsung in sprichwörtlich letzter Sekunde vor allem sich selbst eine weitere Demütigung nach einer Reihe von Niederlagen ersparen wollte. Tatsächlich erhielt die Parteilinke Roth, die am Wochenende ihren Job als Bundesvorsitzende an den Nagel hängen wird, danach souverän 54 von 63 Stimmen. Obwohl der Realo-Flügel, zu dem Künast gehört, in der Fraktion Gewicht hat, waren die Sympathien der Parlamentarier eben trotzdem ziemlich klar bei „ihrer Claudia“. Künast blieb, nachdem sie das begriffen hatte, nichts anderes übrig als der möglichst gesichtswahrende Rückzug.

Dabei war Roth zur Unzeit – nämlich am Montag nach der verlorenen Bundestagswahl – vorgeprescht, um ihre Ambitionen auf den gut dotierten Versorgungsposten anzumelden. Nachdem Künast wohl in einem Anflug von Panik kurz darauf ankündigte, den Fraktionsvorsitz abgeben und sich ebenfalls als Bundestagsvizepräsidentin bewerben zu wollen, war parteiintern dann allein sie diejenige, der das peinliche Gezerre angelastet wurde. Tatsächlich galt die Konkurrenz der beiden Frauen sogleich als Synonym für das Durcheinander bei den Grünen. Es wird Künast aber auch nicht geholfen haben, dass sie mit ihrem Schritt sogar den eigenen Flügel überrumpelt hatte.

Der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter werden bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages am 22. Oktober gewählt. Fest steht: Die Aufgabe ist für politische Vorruheständler attraktiv. Allein schon finanziell. Zusätzlich zur Abgeordneten-Diät von 8252 Euro stehen Mitgliedern des Bundestagspräsidiums ein persönlicher Dienstwagen und eine Zulage in Höhe von 4114 Euro zu. Auch mitreden lässt sich in dieser Funktion gut – der frühere SPD-Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat jahrelang vorgemacht, wie das geht. Bisher saß für die Grünen die neue Fraktionschefin und Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl, Katrin Göring-Eckardt, im Bundestagspräsidium. Sie hatte auf den Posten zugunsten des Fraktionsvorsitzes verzichtet.

Renate Künasts politisches Unglück begann mit der missratenen Spitzenkandidatur bei der Abgeordnetenhauswahl 2011. Da hatte sie sich (auch auf Druck aus der Partei – und eingelullt von guten Umfrageergebnissen) angeschickt, Klaus Wowereit im Roten Rathaus abzulösen. Am Ende war sie mit den Berliner Grünen dann aber doch noch nur als Dritte ins Ziel gegangen. Als Bundestagsfraktionsvorsitzende war sie fortan geschwächt. Dennoch bewarb sie sich als Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl, unterlag in der Urwahl aber Jürgen Trittin und Göring-Eckardt, landete wieder auf Platz drei. Deren erfolglosen Wahlkampf hatte sie nicht zu verantworten – dennoch machte sie nach der Schlappe den Weg frei für die Verjüngung der Fraktionsspitze. Erstaunlich schlecht hatte sie zuvor in ihrem Wahlkreis Tempelhof-Schönberg abgeschnitten, wo sie im Rennen um das Direktmandat wiederum nur Dritte nach Jan-Marco Luczak (CDU) und Mechthild Rawert (SPD) geworden war. Jetzt ist Künast noch nicht mal eine der parlamentarischen Geschäftsführerinnen – das wurden die bisherige Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke, die Hamburgerin Anja Hajduk sowie Katja Keul. Sie, die wie kaum eine Zweite für die Öffnung zur CDU und das Projekt Schwarz-Grün stand, sollte am Abend auch nicht teilnehmen, als die zweite Sondierungsrunde zwischen Union und Grünen auf dem Programm stand.

Spitzenvertreter der Partei wollten eine Koalition mit der Union trotz vorherrschender Skepsis nicht ausschließen. Der baden-württembergische Regierungschef Winfried Kretschmann sagte, seine Partei verhandele „offen und ernsthaft“ – er gilt als Schwarz-Grün-Befürworter. Auch der neue Co-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach von einem spannenden Modell Schwarz-Grün.