Katrin Göring-Eckardt gewinnt Abstimmung gegen Kerstin Andreae – und damit den Platz an Anton Hofreiters Seite

Berlin. Kerstin Andreae hält das Warten auf das Ergebnis kaum aus. Noch während die Stimmen ihrer Fraktionskollegen drinnen im Sitzungssaal ausgezählt werden, drängt sich die Herausforderin nach draußen und verschwindet um die nächste Ecke. Ernst ist ihr Gesicht, nervös. Die Favoritin, Katrin Göring-Eckardt zeigt sich nicht. Als Andreae sich nach wenigen Minuten wortlos wieder den Weg zurück in den Saal gebahnt hat, dauert es nur noch einige Augenblicke, dann verkündet der Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion per Twitter: „Göring- Eckardt mit 41 Stimmen zur Fraktionsvorsitzenden gewählt.“

Den Zweikampf der Realo-Frauen hat eine Politikerin gewonnen, die zuletzt nur noch mit der großen Niederlage in Verbindung gebracht wurde. Die Spitzenkandidatin aus dem missglückten Wahlkampf steigt in das Machtzentrum der Grünen auf. Sie ist bislang die einzige politische Überlebende aus der alten Parteiführung. Die bisherige Fraktionsvorsitzende Renate Künast, Co-Fraktionschef Jürgen Trittin und Parteichefin Claudia Roth sind abgetreten. Nur Co-Parteichef Cem Özdemir bewirbt sich auf dem Parteitag in zehn Tagen um die Wiederwahl.

Für Göring-Eckardt, zuletzt Bundestagsvizepräsidentin, ist es eine Rückkehr an die Fraktionsspitze: Von 2002 bis 2005, zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, beschaffte sie die Grünen-Stimmen für die umstrittene Agenda 2010. Nun soll sie zusammen mit dem linken Co-Fraktionschef Anton Hofreiter die Grünen auf die nächste Bundestagswahl 2017 vorbereiten – und aus der festen Bindung an die SPD herauslösen, für eine Öffnung in Richtung Union und auch in Richtung Linkspartei. Eine schwierige Aufgabe. Aber Göring-Eckardt hat Erfahrung mit Situationen, die Flexibilität in alle Richtungen erfordert. Die baden-württembergische Wirtschaftsexpertin Andreae noch nicht. Das Ergebnis der geheimen Abstimmung unter den 63 Abgeordneten verrät nur so viel: Göring-Eckardt dürfte mehr Stimmen aus dem linken Flügel erhalten haben als Andreae – und das heißt, dass die Ex-Spitzenkandidatin womöglich im eigenen Realo-Lager nur eine hauchdünne Mehrheit erzielt hat. Zwei Enthaltungen wurden gezählt. Ein holpriger Start für die 47-Jährige, soviel lässt sich sagen.

Die Kampfkandidatur zwischen den beiden Frauen hatten viele im Realo-Flügel der Fraktion am liebsten verhindern wollen. Denn dass in den gut zwei Wochen seit der Bundestagswahl bis zur letzten Minute keine Einigkeit auf eine gemeinsame Kandidatin erreicht werden konnte, wirft ein Schlaglicht auf die Krise des Parteiflügels, die schon seit Jahren anhält: Trotz populärer Vertreter wie Cem Özdemir, Winfried Kretschmann oder Fritz Kuhn ist es den Realos über Jahre nicht gelungen, den vom linken Wortführer Jürgen Trittin betriebenen Linkskurs abzumildern. Heraus kam ein Wahlprogramm, das mit überwältigender Mehrheit vom Parteitag Ende April verabschiedet worden war – und die Grünen am 22. September in ein Wahldebakel führte.

So entschlossen und laut, wie Özdemir und Kretschmann seit dem Wahldebakel auftreten, scheint der Realo-Flügel verlorenes Terrain zurückerobern zu wollen. Doch ausgerechnet für das neue Kraftzentrum der Partei, für die Führung der Grünen-Bundestagsfraktion, konnten die Realos keine gemeinsame Kandidatin präsentieren. Stattdessen gaben sie ein ungeordnetes Bild ab. Und schwächten sich damit selbst: Zeitungsinterviews und Fernsehauftritte der beiden Kontrahentinnen in den vergangenen Tagen wurden nach Botschaften an die eigenen Fraktionskollegen abgesucht. Der Realo-Flügel steckte in der Selbstfindung fest.

Mehrere der rund 30 Realo-Abgeordneten im Bundestag hatten seit Tagen hinter den Kulissen versucht, trotz der Ambitionen Göring-Eckardts und Andreaes doch noch irgendwie einen Eindruck von Geschlossenheit im eigenen Lager herzustellen. So wurde darum gerungen, vor der entscheidenden Sitzung eine Probeabstimmung unter den Realos herbeizuführen, um damit die dann unterlegene Kandidatin zum Rückzug zu bewegen. Andreae hatte sich intern für eine solche Vorentscheidung starkgemacht. Die zeigte sich allerdings beharrlich und gab deutlich zu verstehen, dass sie auch dann als Kandidatin antreten wolle, wenn sie zuvor im Realo-Flügel keine Mehrheit hinter sich versammeln sollte. Also ließ der Ehrgeiz der beiden Politikerinnen keine andere Möglichkeit als den direkten Zweikampf zu. Die riskante Probeabstimmung wurde abgeblasen.

Stattdessen verabredeten die Realos eine einheitliche Sprachregelung: „Wir haben zwei starke Frauen“, lautete die Maxime. Doch stimmt das wirklich? Göring-Eckardt hat mit großer Verve ein linkes Wahlprogramm vertreten und nicht einmal einen nennenswerten Versuch unternommen, ihren Co-Spitzenkandidaten Trittin wenigstens um eine wertkonservative Tonlage zu ergänzen. Dem linken Parteiflügel nun plötzlich nachhaltig Einhalt zu gebieten, dürfte der Sozialpolitikerin schwerfallen. Damit dürfte vor allem die künftige Rolle des einzigen grünen Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann, entscheidend sein für den Einfluss der Realos. Er hat sich in der Vergangenheit weitgehend aus parteiinternen Querelen herausgehalten, nach der Wahlschlappe gibt es nun aber Überlegungen, die Struktur der Parteiführung so umzubauen, dass Kretschmann stärker mitreden kann.

Mit der Entscheidung der Fraktion steht auch die Delegation für die Sondierungsgespräche mit der Union über ein schwarz-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene am Donnerstagnachmittag. Göring-Eckardt ist beliebt bei einigen in der Union, Andreae kennen die meisten noch nicht so gut. Der linke Fraktionsflügel übrigens hatte sich schon zwei Tage nach der Bundestagswahl geräuschlos auf den promovierten Biologen und Verkehrsexperten Anton Hofreiter als Kandidaten für den Co-Fraktionsvorsitz festgelegt. Er erhielt in der Sitzung 49 Stimmen.