Auch 23 Jahre nach der Wiedervereinigung seien Unterschiede nicht nur gefühlt, sagen Experten

Berlin. Von wegen „einig Vaterland“. Für viele Ostdeutsche ist die deutsche Einheit auch 24 Jahre nach dem Fall der Mauer noch nicht erreicht. Einer Umfrage zufolge sieht sich noch immer nur jeder dritte Ostdeutsche als „richtiger Bundesbürger“. „Der Schock der Wiedervereinigung ist noch nicht verkraftet“, sagt der Dresdner Soziologe Karl-Siegbert Rehberg. Viele Ostdeutsche verstünden sich noch immer – durchaus stolz – als „Ossis“. Doch es geht nicht nur um ein Gefühl, sondern auch um strukturelle Unterschiede.

Aus Sicht der Westdeutschen haben sich die Lebensverhältnisse in Ost und West weitestgehend angenähert. Das geht aus Daten des Allensbach-Instituts hervor. 78 Prozent der Ostdeutschen aber, schreibt Allensbach-Chefin Renate Köcher in der „Wirtschaftswoche“, sähen das anders. Einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg zufolge glauben 27 Prozent der Ostdeutschen nicht einmal, dass die Lebensverhältnisse je angeglichen werden.

„Das Konstrukt Ostdeutschland gibt es noch – und nicht nur in den Köpfen der Menschen“, sagt Rehberg. Es existiert auch materiell: So haben sich die Bruttolöhne zwar deutlich angenähert, liegen nach Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung aber immer noch um 17 Prozent niedriger als im Westen. Die Arbeitslosenquote ist mit 9,6 Prozent höher als in westdeutschen Bundesländern (5,9 Prozent). Dazu kommen teils niedrigere Renten.

Trotzdem gebe es „den Osten“ aus wirtschaftlicher Sicht nicht, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Es gibt überall regionale Unterschiede – auch zwischen Ostfriesland und Hamburg.“ Da spiele unter anderem die unterschiedlich dichte Besiedelung eine Rolle. Viele Ostdeutsche seien jetzt vor allem enttäuscht, weil sie Anfang der 1990er-Jahre unrealistische Erwartungen gehabt hätten, meint Brenke.

Aus wissenschaftlicher Sicht gebe es Zweifel, dass eine völlige Angleichung je gelingen könne, erläutert der Berliner Sozialforscher Eckhard Priller. Viele Ostdeutsche sähen sich als Verlierer der Wiedervereinigung – und könnten das materiell belegen. Vor allem die 50- bis 64-Jährigen in den neuen Bundesländern sind mit ihrer Lebenssituation weniger zufrieden als der Durchschnitt aller Ostdeutschen. Nur wenige der Älteren bewerten ihre Entwicklung seit 1990 als Aufstieg, ergab der in Berlin vorgestellte Sozialreport des Verbands Volkssolidarität. Ein Viertel von ihnen erlebe eher einen sozialen Abstieg, was etwa an den Sozialreformen seit dem Jahrtausendwechsel liege.

Mehr als zwei von drei Ostdeutschen identifizieren sich Umfragen zufolge mit dem Konstrukt der „neuen Bundesländer“. Sie trauern laut Rehberg auch dem enormen Gemeinschaftsgefühl der DDR-Zeit hinterher. Die Angst, diese Zusammengehörigkeit verloren zu haben, sei enorm groß. Auch deshalb sähen sie sich betont noch als „Ossis“.

Auch wenn viele Menschen in Ostdeutschland mehr Gleichheit wünschen, will die Mehrheit ihre kulturellen Eigenarten daher trotzdem behalten. Auch Vorurteile hielten sich beständig, hat Rehberg beobachtet. „Den Besser-Wessi gibt es noch“, sagt er. Und das Klischee der ehrlichen Haut aus dem Osten und des geschickten aalglatten Westdeutschen lebe auch bei der jüngeren Generation weiter.