Parteichef Gabriel muss seiner Partei alle Optionen offenhalten. Die Genossen in Nordrhein-Westfalen aber sind vehement gegen eine Große Koalition

Berlin. Auf allen erdenklichen Ebenen formiert sich innerhalb der SPD Widerstand gegen ein gemeinsames Regieren mit der CDU/CSU. Norbert Römer, Fraktionsvorsitzender im Düsseldorfer Landtag und Vertrauter von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, verkündet: „Die Große Koalition kommt für uns nicht infrage. Sie ist nicht im Interesse von Nordrhein-Westfalen.“ Der linke Parteiflügel bringt gar Neuwahlen ins Spiel, für die dann Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verantwortlich gemacht werden soll. Und Urgestein Egon Bahr empfiehlt via „Bild“-Zeitung die Bildung einer Minderheitsregierung.

Entsprechend groß ist die Nervosität vor dem Parteikonvent der SPD, der am Freitagabend im Willy-Brandt-Haus tagt und über das weitere Vorgehen entscheiden soll. Bei dem nicht öffentlichen Treffen der rund 200 vorwiegend ehrenamtlichen Funktionsträger mit der Führungsspitze geht es um viel. So will die Basis, ihren Unmut über das bescheidene Wahlergebnis und einen – vorsichtig formuliert – suboptimalen Wahlkampf loswerden. Trauerarbeit also ist zu leisten, hat es schließlich bei der dritten Bundestagswahl in Folge keine Mehrheit für eine rot-grüne Koalition gegeben. Es wird emotional zugehen.

Allzu lange dürften sich die Sozialdemokraten mit Vergangenheitsbewältigung aber nicht aufhalten. Aller Voraussicht nach werden etliche Delegierte des Parteikonvents ihre Sorge vor einer Großen Koalition äußern. Für die Parteiführung, vor allem den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, ist der Verlauf des Abends kaum absehbar. Sollten sich Skepsis und Kritik an möglichen Koalitionsverhandlungen mit der Union zu einer Generalattacke ausweiten, könnte dies Gabriel erheblich in die Defensive bringen. Ausgang offen.

Gabriel steht vor der vielleicht schwierigsten Aufgabe seiner knapp vierjährigen Amtszeit als SPD-Vorsitzender. Er muss eine echte Meisterprüfung abliefern oder, pathetisch ausgedrückt, Staatskunst beweisen. Einerseits hat Gabriel die Einheit der SPD zu wahren, die anders als die CDU kein monolithischer Block ist, in dem in der Regel gemacht wird, was die Führung sagt. Die Sozialdemokratie funktioniert weit weniger hierarchisch und lässt sich, anders als zu Herbert Wehners Zeiten, nicht mehr autoritär führen. Längst nicht jeder in der SPD will – das ist der größte genetische Unterschied zur Union – regieren; manchem reicht es aus, wohlfeile Programme zu schreiben. Solche Mitglieder sind zu umgarnen.

Unumschränkt beherrscht Gabriel die SPD keineswegs, eingeengt wird er auch vom eigenen Erfolg. Seit 2010, unter seiner Führung also, hat die Partei etliche Regierungsbeteiligungen in den Ländern erkämpft. Neun Ministerpräsidenten gehören heute seiner Partei an, vor vier Jahren waren es gerade einmal fünf. Die einst zentralistische SPD ist also föderaler geworden, der Partei fehlt ein strategisches Zentrum. Vor allem Hannelore Kraft, deren Verhältnis zu Gabriel zerrüttet ist, stänkert gegen eine Große Koalition. Dies ist insofern pikant, als Kraft die mächtigste Frau der SPD ist. Sie regiert das bevölkerungsreichste Land, aus dem jeder vierte SPD-Bundestagsabgeordnete stammt. Nichts geht in der Partei ohne Kraft. Und natürlich geht es Kraft auch darum, Gabriel einen mitzugeben. Sie weiß: Wäre der machtbewusste, wendige SPD-Vorsitzende erst einmal Vizekanzler, hätte sie nur noch wenig zu melden. Der für sie angenehme Dualismus „Merkel im Bundestag versus Kraft im Bundesrat“ wäre relativiert.

Allerdings sind Kraft und fast alle Kritiker einer Großen Koalition schuldig geblieben, eine politisch realistische Alternative zu präsentieren. Will sie wirklich eine schwarz-grüne Koalition – worüber ja nicht allein die SPD entscheidet? Wünscht sie sich eine Minderheitsregierung Merkel? Oder Gabriel? Präferiert sie Neuwahlen? Gabriel jedenfalls wird es sich merken, wie Kraft ihm die ohnehin komplizierte Lage erschwert.

Der SPD-Vorsitzende muss am Freitag neben aller Empathie für die eigenen Truppen seine Partei im Spiel halten. Gabriel hat einen Weg zu finden, der Sondierungsgespräche mit CDU und CSU zumindest ermöglicht. Als Gegenleistung könnte er dem Wunsch nach einem Mitgliederentscheid stattgeben – und dafür die Fragestellung formulieren, bevor das andere tun. In der SPD wird erwartet, dass Gabriel am Freitag allen Vorbehalten gegen eine Große Koalition zustimmt, um sich dann doch für Gespräche ein Plazet geben zu lassen. Er könnte hernach den Parteikonvent unterbrechen; dann ließe er sich jederzeit, also ohne lästige Fristen, wieder einberufen.

Dann könnten SPD und Union zunächst sondieren, um schließlich Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Womöglich geschieht das schon in der kommenden Woche – trotz des „Brückentages“ am 3. Oktober und der Anwesenheitspflicht mancher Akteure bei der Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Stuttgart. Komfortabler indes wären spätere Gespräche, auch politisch gesehen. Es bliebe noch mehr Zeit für die Trauerarbeit.

Gegenstand einer Mitgliederbefragung, die längst von mehreren Landesverbänden gewünscht wird, wäre die Koalitionsvereinbarung. Dieser Umstand brächte die SPD dazu, der Union allerhand Zugeständnisse zu entlocken. Jener Mitgliederentscheid könnte vom SPD-Vorstand beschlossen werden. „Termin und Gegenstand sind spätestens zwei Wochen vor dem Abstimmungstag zu veröffentlichen“, heißt es im Statut. Jedes der rund 470.000 Mitglieder hätte eine Stimme. Eine einfache Mehrheit bei einer Beteiligung von mindestens einem Fünftel der Genossen führt zum Erfolg. Der ordentliche SPD-Bundesparteitag ist für den 14. bis 16. November in Leipzig einberufen. Eine Verschiebung gilt als nicht praktikabel. Über all dies werden der Vorstand und Parteikonvent am Freitag beraten. Die gesamte Führungsspitze wird hier erwartet. Es dürfte ein langer Abend werden.