In der Partei wird der Ruf nach Mitgliederbefragung lauter. Fraktion setzt auf Kontinuität und bestätigt Steinmeier als Chef. Was will Steinbrück?

Berlin. Gratuliert, umarmt und geküsst wurde am Dienstagmittag vor dem SPD-Fraktionssaal im Reichstagsgebäude. Fröhlich ging es zu, viele gut gelaunte Menschen waren zu sehen, mehr als am Abend der Bundestagswahl in der Parteizentrale. Es war ein großes Hallo, als bisherige und am Sonntag gewählte Abgeordnete, mithin fast allesamt Sieger, zusammenkamen. Die alte und neue Fraktion tagten gemeinsam, so hat es Tradition. Zählte die bisherige SPD-Fraktion 146 Mitglieder, sind es nunmehr (im etwas größeren Bundestag) 192 Abgeordnete, knapp die Hälfte von ihnen wurde erstmals ins Parlament gewählt. Allerdings haben SPD-Kandidaten nur 58 Wahlkreise erobert, in der Fraktion also dominiert der Listen-Abgeordnete. Etliche Männer und Frauen betraten ein vorerst letztes Mal den Fraktionssaal, unter ihnen der scheidende Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und der einstige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering nahmen im Paul-Löbe-Saal Platz.

Für Münteferings Ehefrau Michelle indes war es eine Premiere. Sie hatte im westfälischen Herne, einem bombensicheren Wahlkreis für die SPD, das Direktmandat errungen. Niels Annen aus Hamburg-Eimsbüttel betrat nach einer vierjährigen unfreiwilligen Pause wieder als Parlamentarier den Bundestag. „Ach, Sie sind ja auch wieder alle an Deck“, begrüßte ein gewisser Peer Steinbrück die Journalisten vor den Türen der Fraktion. Frank-Walter Steinmeier, der einzig direkt gewählte SPD-Abgeordnete aus dem Osten, wählte den Hintereingang.

Steinmeier stellte sich in seinem Amt als Fraktionschef zur Wahl. Der 57-Jährige wurde mit einer Zustimmung von rund 91 Prozent im Amt bestätigt. Im Sommer hatte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel damit geliebäugelt, die Fraktionsführung zu übernehmen. Während sich aber Gabriel bei den Abgeordneten unbeliebt machte (er warf ihnen unter anderem vor, zu wenig Wahlkampf zu machen), absolvierte Steinmeier in den vergangenen Wochen mit Kundgebungen und Betriebsbesuchen in den Wahlkreisen eine Werbetour nicht zuletzt in eigener Sache. Steinmeier habe sich nur pro forma an die Spitze der Fraktion wählen lassen, mittelfristig strebe er ein Ministeramt an, vermuten Einzelne. Das aber ist zweifelhaft. Auch im Falle einer großen Koalition besäße Steinmeier als Fraktionschef eine Schlüsselstellung. Eine Rückkehr ins Auswärtige Amt strebe er gewiss nicht an, auch das ist zu hören. Ginge es wiederum nach Gabriel, träte Steinmeier in ein Kabinett ein. In den vergangenen vier Jahren empfand er den Oppositionsführer als zu vorsichtig, zu moderat, zu staatstragend. Die Ankündigung Peer Steinbrücks, er werde „an Bord“ bleiben, lädt derweil zur Spekulation ein, welche Funktion der gescheiterte Kanzlerkandidat anstrebe. Selbst von einem Fraktionschef Steinbrück ist die Rede – für den Fall, dass Steinmeier in ein Kabinett wechsle.

Doch die zeitraubenden Sitzungen mit Geschäftsführendem Fraktionsvorstand, Arbeits- und Landesgruppen sind gewiss nicht nach seinem Geschmack. Steinmeier, ausgestattet mit ostwestfälischer Geduld (und einem unterschätzten Machtbewusstsein), ist hier weitaus geeigneter. Plausibler ist die Vermutung, dass Steinbrücks „Bord“-Versprechen seinem Freund Steinmeier dienen soll. Die beiden Männer, politisch ohnehin nah beisammen, wurden durch den jüngsten Wahlkampf zusammengeschweißt – nicht zuletzt in ihrer tiefen Skepsis gegenüber Gabriel. Verließe Steinbrück nun die Bühne, verlöre Steinmeier im Umgang mit dem Chef einen Verbündeten. So soll es nicht kommen.

Unklar bleibt vorerst, wie sich die SPD im Falle von Koalitionsgesprächen mit der Union verhalten wird. Innerhalb der Partei nämlich herrscht Angst vor der Bildung einer großen Koalition. Vor allem in den rot-grün regierten Ländern bildet sich erheblicher Widerstand. Hier fürchtet man unpopuläre Berliner Entscheidungen, die die Landeshaushalte Geld und die Landesparteien Stimmen (und Mitglieder) kosten. Schlechte Erfahrungen mit der letzten schwarz-roten Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel, das miese eigene Wahlergebnis von 25,7 Prozent und die 16 Prozentpunkte Rückstand zur Union machen die SPD skeptisch. Den Landespolitikern in der Exekutive ist das eigene Hemd näher als der (bundespolitische) Rock. In den Ländern hat die SPD ihren Machthunger weithin gestillt, an 13 der 16 Landesregierungen ist sie beteiligt. Hessen könnte dazu kommen.

Der Ruf nach einer Mitgliederbefragung über das Schreckgespenst einer Großen Koalition wird lauter. Der Vorstand der nordrhein-westfälischen SPD forderte in einer Resolution „eine breite Beteiligung der Gremien und Mitglieder an möglichen Entscheidungsprozessen“. um „eine breite Akzeptanz zu erreichen“. Der Wortlaut des Beschlusses wird von SPD-Vize, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, zumindest mitgetragen. Kraft erhöht damit den Druck auf Gabriel und die bundespolitischen Akteure der SPD. Auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden derlei Stimmen laut. Stimmung und Position des am Freitagabend in Berlin tagenden „Parteikonvents“ gelten als nicht absehbar. In jenem recht neuen Gremium, das von ehrenamtlichen Funktionären geprägt ist, könnte sich der Frust über eine Große Koalition breitmachen. Der SPD-Vorsitzende Gabriel steht vor der vielleicht anspruchsvollsten Aufgabe seiner politischen Karriere: Er muss die Basis befrieden, die Einheit der Partei wahren – und doch, aus einer staatspolitischen Verantwortung heraus, die Möglichkeit von Gesprächen mit der Union zumindest offenlassen.