Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Union haben einen großen Vorsprung in Umfragen. Der Rest ist ungewiss. Die möglichen Szenarien nach der Bundestagswahl.

Berlin. In Erinnerung bleiben zwei Gesten, immerhin. Der Stinkefinger von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und die Raute von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Nur eine dieser Gesten war neu. Auch das noch. Es war ein Wahlkampf zwischen leicht erratischer Attacke und einschläferndem Hinhalten. Zuletzt bestimmten TV-Formate die Debatten, in denen klar wurde, dass die Politiker höchst nervös sind. Eine inhaltliche Diskussion fand kaum statt. Die Kampagnen waren stark personalisiert.

Wohl deshalb gab es neben einer Fülle an klassischen Umfragen auch kuriose wie die, ob die Deutschen eher einem Bartträger oder einem Glattrasierten vertrauen. Ergebnis übrigens: Jeder Dritte empfindet Gesichtsbehaarung als einen Ausweis von Bürgernähe. Immerhin werden die Glatten für kompetenter gehalten. Angela Merkel und Peer Steinbrück sind glatt rasiert.

Zurück zu den wichtigen Dingen. Zurück zu den Gewissheiten: Die Union wird am Sonntag vor der SPD liegen. Der Rest ist ungewiss. Eine wochenlange Blockade bei der Regierungsfindung ist durchaus möglich. Die entscheidenden Fragen sind: Kommt die FDP in den Bundestag? Kommt die AfD in den Bundestag? Setzt sich der Niedergang der Grünen fort? Wird sich die SPD untreu? Einige Szenarien:

1. Die FDP kommt in den Bundestag

Die Partei hat seit dem Desaster der Bayern-Wahl alle Energie einer Zweitstimmenkampagne gewidmet. Ohne Rücksicht darauf, ob sich das eigentlich schickt und ob der Union das schmeckt. In Berlin konnte man gleich nach der Bayern-Schlappe Plakate entdecken, auf die erregte Zeitgenossen mit wasserfestem Stift geschrieben hatten: „Begreift es endlich!“ Am anderen Tag waren diese mit einem altrosa Zettel überklebt: „Zweitstimme FDP“.

Der Zweitstimmen-Übertrag führt nur zum Austausch innerhalb des bürgerlichen Lagers. An der Mehrheitsfähigkeit von Schwarz-Gelb ändert das nichts. Zusammen hatten beide Parteien in letzten Umfragen zwischen 45 und 47 Prozent. Das könnte knapp reichen oder auch nicht. Allerdings darf die Statistik bemüht werden: Die Union war bei den Wahlen 2005 und 2009 viel besser taxiert worden, als das Ergebnis am Ende war. Schwarz-Gelb ist folglich nicht das wahrscheinlichste Szenario.

2. Die FDP kommt nicht in den Bundestag oder ist zu schwach

Falls es für Schwarz-Gelb nicht reicht, bleibt Angela Merkel noch die SPD als Partner. Ein schwarz-grünes Bündnis ist eher ein Medien-(Alb)Traum als realistische Option. Von den Sozialdemokraten gab es unterschiedliche Signale. Peer Steinbrück machte deutlich, im Falle des Falles sogar die Koalitionsverhandlungen führen zu wollen. Obwohl er versichert, einem Kabinett unter Merkel nicht angehören zu wollen.

Die SPD hat Bange vor einer Großen Koalition. Im Hinblick auf den Zuspruch in der Bevölkerung ist ihr schon die Zeit zwischen 2005 und 2009 nicht bekommen. Unangenehm für die Union wäre die Postenverteilung. Inhaltlich sind die Parteien gar nicht so weit auseinander. Genannt seien nur Mietpreisbremse, ein irgendwie gearteter Mindestlohn, die Regionalisierung der Krankenversicherung, Ganztagsschule, Frauenquote.

Personell aber müsste die CDU einiges hinnehmen. So wird die CSU nach ihrem Wahlsieg auf drei Ministerien bestehen. Mit dem Kanzleramt sind 15 Häuser zu verteilen. Bleiben zwölf, von denen die SPD auf mindestens fünf bestehen dürfte, schon um das Abstandsgebot zur CSU zu wahren. Abzüglich des Kanzleramts bleiben für die CDU sechs Ministerien übrig – Interessenten gibt es aber dafür wohl erheblich mehr. Gleichwohl ist die Große Koalition von allen Szenarien die wahrscheinlichste.

3. Die AfD kommt in den Bundestag

Die Alternative für Deutschland (AfD) ist die große Unbekannte in den Berechnungen. Meist sehen sie die Meinungsforscher nicht als Teil des Bundestages. Doch eine Garantie wollte dafür keiner abgeben. Es wäre die erste neue Partei im Parlament seit der PDS 1990.

Keiner will mit der AfD koalieren. Mit Euro-Gegnern lasse sich kein Bündnis schmieden, heißt es in der Union. Tatsächlich wäre es höchst ungewöhnlich, wenn es dabei nicht bliebe. Nicht nur aufgrund der inhaltlichen Differenzen. Die Neulinge sind unkalkulierbar. Ihnen fehlt es an Erfahrung. Auch lehrt die Geschichte, dass Koalitionen im Bund erst möglich werden, wenn dem entsprechende Farbkombinationen in Bundesländern vorausgegangen sind. Und noch sitzt die AfD in keinem Landtag. Beim Einzug der AfD dürften sich die Mehrheitsverhältnisse so ändern, dass das Szenario Große Koalition unumgänglich wird.

4. Es reicht für ein großes linkes Bündnis

Auch hier sehen die Demoskopen eine rechnerische Möglichkeit, wenngleich eine sehr knappe. Rot-Rot-Grün hat Peer Steinbrück aber ausgeschlossen. Jedoch kursieren Gerüchte, dass es in der SPD zur Meuterei kommt und ein Kanzler Sigmar Gabriel das Linksbündnis durchziehen würde. Der Gesichtsverlust wäre jedoch enorm für die SPD. Aber, und das wird meist übersehen, auch für die Linke. Denn die Truppe um Gregor Gysi hat sich deutlich von der SPD distanziert. Zwar ist bei der Linken relative Ruhe eingekehrt. Die Frage, ob man regieren oder opponieren will, ist nicht mehr so virulent. Die Linke würde durchaus mitregieren. Sie will jedoch von ihren Bedingungen kein Jota abweichen. Die lauten: keine Auslandseinsätze der Bundeswehr, Hartz IV reformieren und am besten abschaffen und die Rente mit 67 kippen.

All das wird mit der SPD sehr schwierig. Auch hat die Linke die gesamten Euro-Rettungspläne der Regierung bisher abgelehnt. Im Gegensatz zur SPD. Und Europa bleibt in der nächsten Legislaturperiode ein großes Thema. Ein Bündnis ist deshalb eher ein Schreckensgespenst, das das konservative Lager beschwört, als eine echte Option.

Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf eine Tolerierung von Rot-Grün durch die Linke. Das gab es zwar schon in verschiedenen Ländern. Allerdings fehlt es Rot-Grün nach derzeitigen Prognosen nicht bloß an ein oder zwei Sitzen, um eine Mehrheit zu erreichen. Vielmehr könnte es am Ende gut so ausgehen, dass die Linke stärker aus der Wahl hervorgeht als die Grünen. Sie verloren zuletzt deutlich an Zustimmung. Eine Tolerierung macht dies noch unwahrscheinlicher, als sie ohnehin schon ist.

Die Wahllokale öffnen am Sonntag um 8 Uhr. Insgesamt 61,8 Millionen Bundesbürger entscheiden dann, wer in Berlin künftig regiert. Die ersten Prognosen der großen Fernsehsender gibt es mit Ende der Stimmabgabe um 18 Uhr, gefolgt von den Hochrechnungen. Spätestens dann wissen wir alle mehr. Das vorläufige amtliche Endergebnis wird in der Nacht erwartet. Mit Interesse wird erwartet, ob die Wahlbeteiligung weiter sinkt. 2009 lag sie bei 70,8 Prozent. Die beiden Altkanzler Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) riefen am Freitag dazu auf, vom Wahlrecht auf jeden Fall Gebrauch zu machen. Der neue Bundestag mit seinen mindestens 598 Abgeordneten trifft sich spätestens am 22. Oktober zum ersten Mal. Bis dahin ist die schwarz-gelbe Bundesregierung auf jeden Fall noch im Amt.