Nach der Wahlpleite in Bayern: Liberale bauen auf die Zweitstimmen der Unionswähler

Berlin. Die Stimmung im Präsidiumszimmer ist angespannt. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fasst den Blumenstrauß, den ihr Parteichef Philipp Rösler hinhält, fast widerwillig an, so als seien die Blumen vergiftet. Wer nach einer so vernichtenden Wahlpleite den Strauß bekommt, ist öffentlich als Verlierer gebrandmarkt. Leutheusser-Schnarrenberger ist zu Ohren gekommen, dass Rösler ihr als Landeschefin in Bayern einen „Schlafwagen-Wahlkampf“ und den Absturz auf 3,3 Prozent ankreidet.

Die Bundesjustizministerin schleicht mit betretener Miene an ihren Platz. Die anderen liberalen Alphatiere schauen gar nicht auf, bearbeiten ihre Handys und Computer. Für Abrechnungen ist es (noch) zu früh. In den gesenkten Köpfen der Versammelten werden aber längst Schlachtpläne und Allianzen durchgespielt, für die Zeit nach dem 22. September.

Niemand will sich in die Karten schauen lassen. Das würde illoyal und parteischädigend wirken. Nur Wolfgang Kubicki lässt unten im Atrium bei den Journalisten für einen Moment die Maske fallen und erkennen, dass sich in der Führung etwas zusammenbraut. Die bayerischen Parteifreunde hätten die Wahl an die Wand gefahren, eigene Erfolge nicht gut verkauft, sagt der extrovertierte Kieler, „das ist wahrscheinlich eine Typenfrage.“ Auch das zielt auf Leutheusser-Schnarrenberger. In Partei und Fraktion arbeiten einige daran, dass die Justizministerin in einem künftigen schwarz-gelben Kabinett nicht mehr dabei wäre. Aus ihrem Umfeld wiederum kommt unverhohlen Kritik am Wahlkampfmanagement in der Bundes-FDP. Wieder habe sich die Partei an die Union gekettet, statt selbstbewusst auch andere Optionen zu erarbeiten – wie eine Ampel zum Beispiel.

Nach der Wahlniederlage in Bayern ist die Partei in Lebensgefahr. Deshalb konzentriert sich jetzt alles auf das Ziel, in den letzten Tagen möglichst viele Unionswähler davon zu überzeugen, mit der Zweitstimme die Liberalen zu retten. „Wer Merkel haben will, wählt FDP“, sagte FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle in Berlin. Nur die „Merkel-Stimme“ für die FDP sichere den Fortbestand des schwarz-gelben Regierungsbündnisses und verhindere, dass die Union eine große Koalition mit der SPD eingeht.

Auch Parteichef Philipp Rösler kündigte an, die FDP werde in den letzten Tagen vor der Wahl „sehr konkret um die Zweitstimme kämpfen“. Die Parteiführung habe die Bundestagskandidaten angeschrieben und vorgeschlagen, dass diese vor Ort Absprachen mit dem jeweiligen Unionskandidaten treffen: Erststimme für die Union, Zweitstimme für die FDP. Eine entsprechende Absprache mit der CDU im Bonner Wahlkreis von Bundesaußenminister Guido Westerwelle könne als „Beispiel“ für die ganze Partei dienen, sagte Rösler. Die Entscheidung über solche Absprachen liege bei den Kandidaten vor Ort im Wahlkreis. „Wir werben selbstbewusst um die Zweitstimme“, kündigte der Parteichef an. Die Großplakate der FDP würden mit einem entsprechenden Aufruf überklebt: „Jetzt geht’s ums Ganze – Zweitstimme FDP“, lautet der Text. Das FDP-Duo wies Kritik aus der Union an der Zweitstimmenkampagne zurück. „Ein gesplittetes Wahlverhalten ist nichts Neues“, sagte Brüderle. Rösler versicherte, die Kampagne werde „sportlich fair“ verlaufen.

Im ganzen Land umgarnt die Partei CDU/CSU-Direktkandidaten. Wahlkreisabsprachen sollen einen knappen Sieg für Schwarz-Gelb sichern. Doch das veränderte Wahlrecht, das Überhangmandate ausgleicht, macht den Schwachpunkt dieses Deals deutlich. Er würde der FDP helfen, nicht der CDU. Ende der Woche wird die FDP Postkarten an über vier Millionen Haushalte verschicken. Auf die großen Plakate mit Brüderle wird der Spruch geklebt: „Jetzt geht’s ums Ganze.“

Die Liberalen sind schon lange eng mit dem Thema Leihstimmen verknüpft. Das mag auch daran liegen, dass die Partei viele Jahre die einzige Kraft neben Union und SPD im Bundestag war und deshalb allein die Rolle des Mehrheitsbeschaffers spielte. Auch die Strategie mit Leihstimmen von der Union hat sich mehrfach bewährt, wenn es darum ging, Schwarz-Gelb eine Mehrheit zu verschaffen. Dass sich die CDU-Spitze jedoch in diesem Jahr entschieden dagegen wehrt, liegt an ihren Erfahrungen mit der Leihstimmen-Strategie am Beginn dieses Jahres.

Die Union fürchtet einen erneuten „Niedersachsen-Effekt“: Bei der niedersächsischen Landtagswahl im Januar drohten die Liberalen den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde zu verpassen. Die schwarz-gelbe Landesregierung fürchtete das Aus, trotz hoher Zustimmungswerte für Ministerpräsident David McAllister (CDU). Umso heftiger warben die Liberalen – geduldet von der Union – bei CDU-Wählern für eine Fortsetzung des bürgerlichen Regierungsbündnisses. Das hatte gravierende Folgen: Zwar erzielte die FDP mit 9,9 Prozent ein für sie sensationelles Ergebnis. Doch diese Wähler fehlten der CDU. Zusammen hatte Schwarz-Gelb nun ein Abgeordnetenmandat weniger als Rot-Grün. McAllister, Hoffnungsträger der CDU, war überraschend abgewählt. Die dauerkriselnden Liberalen hatten sich quasi auf Kosten der CDU gerettet.

FDP-Präsidiumsmitglied Wolfgang Kubicki bekräftigte am Montag gegenüber der „Leipziger Volkszeitung“ die Zweitstimmenkampagne: „Wir machen das nicht auf Kosten der Union. Wir werden den Menschen erklären, dass es in den Wahlkreisen Sinn macht, gesplittet zu wählen, wenn man die bürgerliche Koalition an der Regierung halten will.“ Gesundheitsminister Daniel Bahr sagte dem „Tagesspiegel“, für seine Partei gehe es „ums Ganze, es geht auch um die Existenz einer freiheitlichen Partei“. Wie andere führende Politiker von FDP und Union malte Bahr eine rot-rot-grüne Mehrheit an die Wand. Die war von den SPD und den Grünen ausgeschlossen worden.