Ohne Hannelore Kraft geht in der Partei fast nichts mehr. Wie wird sie sich nach der Wahl positionieren?

Düsseldorf. Hannelore Kraft verteilt Autogrammkarten. Sie schreibt mit einem silbernen Stift ihren Namen auf ihr Konterfei und fügt eine Widmung hinzu, für Sandra, für Marion, für Jenny, für Sadete. Der Kartenstapel in ihrer linken Hand wird rasch kleiner. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin steht in einer Menschentraube auf dem Sternplatz in Lüdenscheid, plaudert, schüttelt Hände, tätschelt Schultern, als sei sie eine Gleiche unter Gleichen. „Für mich ist das ja immer noch komisch, Autogramme zu schreiben“, sagt Kraft.

Eine Seniorin spricht sie an, sofort winkt Kraft den lokalen SPD-Chef herbei und sagt: „Goran, kannst du mal bei der Dame nachfassen? Da gibt es ein Problem mit einem Altenheim, wo offensichtlich viele Mitarbeiter keine Qualifikation haben.“ Dann stehen drei junge Frauen vor ihr. „Ich wollte Ihnen nur mal die Hand geben“, sagt eine von ihnen und fügt hinzu: „Ich hätte Sie viel lieber als Kanzlerkandidatin neben Frau Merkel gesehen.“ Kraft lächelt und erwidert: „Ich muss noch in Nordrhein-Westfalen bleiben. Ich werde hier gebraucht.“

Solche großen Erwartungen begleiten die 52-Jährige ständig im Bundestagswahlkampf; sie umschmeicheln und bedrängen die Regierungschefin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, je schlechter es der SPD geht und je häufiger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in Erscheinung tritt. Aus Sicht ihrer zahlreichen Fürsprecher verkörpert Kraft eine besondere Nähe zu den einfachen Leuten und eine sozialdemokratische Authentizität, um die sich Steinbrück so verzweifelt bemüht.

Die späte Politikerin, die erst 1994 mit 33 Jahren in die SPD eintrat, ist längst nicht mehr nur Ministerpräsidentin, SPD-Landeschefin und stellvertretende Parteivorsitzende, sondern auch Hoffnungsträgerin. Vergleiche mit der Bundeskanzlerin mag Kraft nicht, auch wenn ihr politischer Weg interessante Parallelen aufweist. Beide begannen ihren Aufstieg in einer schweren Krise ihrer jeweiligen Partei. Sie ziehen Kooperation und Konsens einer Konfrontation vor, die sanfte Variante der Macht. Ohne Merkel geht nichts mehr in der CDU, und ohne Kraft geht immer weniger in der SPD.

Nach der Wahl am 22. September wird Kraft ein weiteres inoffizielles Amt ausüben: Sie wird Königsmacherin sein, falls die dramatischen Umfragewerte sich bestätigen und die SPD verliert. Ob Sigmar Gabriel Parteichef bleibt oder ob ihn jemand ablöst, vielleicht Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, hängt nicht allein von Ergebnis und Koalitionsoptionen ab, sondern maßgeblich auch von Kraft und ihrer NRW-SPD. Der Einfluss des mitgliederstärksten Landesverbandes in der Partei ist legendär; freilich räumen erfahrene Sozialdemokraten in NRW ein, dass es der Landespartei vor allem früher exzellent gelang, die Stimmung und Mehrheiten in der Partei zu erspüren und mit diesem Wissensvorsprung geschickt zu agieren. Noch gibt es im Landesverband keine mehrheitliche Meinung dazu, ob außer Rot-Grün auch eine Große Koalition in Betracht käme. Einige zitieren Franz Münteferings Bonmot, wonach Opposition „Mist“ sei; andere sorgen sich, dass die SPD unter Merkels Umarmung noch schwächer würde. Rot-Rot-Grün oder eine Tolerierung durch die Linke scheint auch den Abgebrühtesten zu riskant.

Für Krafts enge Weggefährten im NRW-Landesverband scheint freilich klar zu sein, dass sie aktuell keinerlei Ambitionen auf Aufgaben in Berlin und speziell auf den Parteivorsitz hat. „Hannelore Kraft ist sehr beliebt. Deswegen bleibt sie auch hier in Nordrhein-Westfalen“, betont der SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag, Norbert Römer. Der Parteivorsitz sei bei Gabriel in „guten Händen“. Kraft selbst wiederholt unermüdlich, dass sie in NRW ihre landespolitischen Ziele umsetzen wolle. Es sind keine bloßen Floskeln, sie hat dies hinter den Kulissen von Parteitagen auch Berliner SPD-Strategen genauso gesagt, die sie stärker in der Bundespolitik einbinden wollten. Kraft will sich nicht überfordern. Sie achtet auf den verbliebenen Rest Privatsphäre mit Ehemann Udo, Sohn Jan und Mutter Anni – und auf ihre Gesundheit. Anfang August sprach sie mit dem „Stern“-Magazin über ihre Kindheit in einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet, dass ihre Oma sie großzog, weil ihre Eltern Schichtdienst hatten.

„Meine Jugend endete, als mein Vater an seinem 50. Geburtstag starb, an Krebs“, erzählt Kraft. Sie ist überzeugt, dass er Zöliakie, eine lebensgefährliche Unverträglichkeit für Gluten, hatte wie sie selbst, nur dass es bei ihm unerkannt blieb. Kraft litt lange, wurde immer dünner und schwächer, dachte es sei der Dauerstress. Ende 2007 kam sie selbst darauf, als sie etwas über Zöliakie im Internet las. Seitdem hat sie ihre Ernährung umgestellt. „Ich bin jetzt gesund, ich kann ohne Medikamente leben“, sagt Kraft. So offen sprach, bis auf den krebskranken wahlkämpfenden CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach, schon lange kein Politiker mehr über Schicksalsschläge und Schwäche.

Es gibt noch andere triftige Gründe dafür, dass sie zögert und auslotet, ob und wann ein stärkeres Engagement in der Bundespolitik sinnvoll sein könnte. Ohne Kraft käme eine grundlegende Schwäche der NRW-SPD zum Vorschein. Kaum einem Landesminister gelingt es bisher, sich annähernd wie sie öffentlich zu profilieren und als Führungsreserve anerkannt zu werden. Eine weithin unbekannte Kabinettskollegin stellte sich in der Not den Passanten im Wahlkampf so vor: „Guten Tag, ich bin eine Ministerin von Hannelore Kraft.“ Manchmal erzählt Kraft in kleinerem Kreis über das Schicksal eines anderen. Das Scheitern des in Rheinland-Pfalz einst populären Ministerpräsidenten Kurt Beck als SPD-Parteichef bleibt ihr in böser Erinnerung. 2008 ist sie gerade ein Jahr SPD-Landeschefin und Mitglied im Bundesvorstand, als Beck nach einer Intrige aufgeben muss. Kraft bekommt die Grausamkeit von Politik zu spüren.

„In Berlin kann man schnell ins Haifischbecken geraten. Da ist Hannelore sehr vorsichtig“, hört man im SPD-Landesvorstand. Kraft beobachtet den Hype um ihre Person durchaus geschmeichelt – und ziemlich nüchtern. In Nordrhein-Westfalen ist sie derzeit unumstritten. In der jüngsten Umfrage hat die SPD einen Punkt auf 40 Prozent zugelegt. Doch die Konkurrenz bleibt ihr eng auf den Fersen: Die CDU erreicht 36 Prozent. Ihre politische Zukunft entscheidet sich spätestens in vier Jahren. 2017 könnten sich mehrere Optionen öffnen, dann werden Bundestag, Landtag und ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Kraft wird sich zwischen drei Kandidaturen entscheiden müssen: Bundeskanzlerin, Bundespräsidentin oder Ministerpräsidentin.