Der SPD-Vorsitzende spricht über einen Wohlfühlwahlkampf, die Bedeutung der Wahlbeteiligung, Steuererhöhungen und den Syrien-Konflikt.

Hamburg. Wenn mehr als 75 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung gehen, rechnet SPD-Chef Sigmar Gabriel noch mit einer Chance für Peer Steinbrück. Höhere Staatseinnahmen hält er für Investitionen in Infrastruktur und Bildung für nötig.

Hamburger Abendblatt: Das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem SPD-Herausforderer Peer Steinbrück hat einer Umfrage zufolge kaum eine Veränderung bei der Sonntagsfrage gebracht. Welche Überraschungen hat die SPD noch parat, um das Blatt zu wenden?

Sigmar Gabriel: Ich glaube, dass das Duell seine Wirkung noch zeigen wird, weil es den Bundestagswahlkampf zum Leben erweckt hat. Angela Merkel wollte doch die Wähler einschläfern. Entscheidend ist für uns, dass die Menschen zur Wahl gehen. Letztendlich wird die Bundestagswahl über die Wahlbeteiligung entschieden. Bei einer Wahlbeteiligung unter 70 Prozent gewinnt Merkel, bei mehr als 75 gewinnt Peer Steinbrück.

Die Gefangenschaft im „30-Prozent-Turm“ galt einmal als Schreckensszenario für die SPD. Wären Sie heute froh, dort hineinzukommen?

Gabriel: Ja, das Mitte-links-Spektrum hat sich in den letzten Jahren zu sehr aufgespalten. Wir haben mit der SPD, den Grünen, der Linken und den Piraten im linken politischen Lager dreieinhalb Parteien. Rechts der Mitte gibt es mit Union und Liberalen nur eineinhalb ernst zu nehmende Parteien. Und trotzdem: Am Ende hängt die Stärke der SPD von der Wahlbeteiligung ab.

Umfragen zufolge ist derzeit von einem Wahlerfolg von Rot-Grün nicht auszugehen. Stehen Sie für eine Koalition mit der Union zur Verfügung?

Gabriel: Ich bin gegen eine Große Koalition von SPD und Union, weil so ein Bündnis nur eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners wäre. Zu Zeiten der Finanzkrise 2009 war das gemeinsame Management gut und notwendig. Aber jetzt, abseits der großen Krise, stehen wir vor anderen Herausforderungen. Und da gibt es fundamentale Unterschiede zwischen Union und SPD. Nehmen wir nur die Pflegereform. Die Union hat das „Jahr der Pflege“ ausgerufen, aber nichts unternommen. Oder schauen Sie auf die Energiewende. Die wird inzwischen zu einer Gefahr für die deutsche Wirtschaft, weil das Missmanagement der Koalition so groß ist.

Sie kündigen in Ihrem Wahlprogramm an, die Steuern erhöhen zu wollen. Hat der Staat nicht genügend Einnahmen?

Gabriel: Ja, wir haben hohe Steuereinnahmen. Aber eben auch die höchsten Schulden in unserer Geschichte. Wir müssen jetzt alles, was wir zusätzlich durch die gute Konjunktur einnehmen, zur Senkung der Staatsverschuldung nutzen. Und trotzdem haben wir ja Aufgaben bei Bildung, Infrastruktur und Energiewende, die mehr Geld erfordern. CDU und FDP versprechen den Menschen, dass sie Schulden senken, mehr Geld ausgeben und die Steuern senken wollen. Wer bei den Grundrechenarten in der Schule aufgepasst hat, weiß: Das passt nicht zusammen. Es geht bei diesem Wahlkampf vor allem um Ehrlichkeit. Wer sagt den Bürgern, wie er seine Wahlversprechen bezahlen will? Wir tun das. So schlimm wie unter Bundeskanzler Helmut Kohl wird es aber nicht. Bei ihm lag der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent. Das fordern nicht mal mehr die Jungsozialisten.

Der Staat nimmt so viel Geld ein wie noch nie. Muss das nicht reichen?

Gabriel: Wir benötigen das Geld für den Abbau von Staatsschulden, für die Sanierung unserer Infrastruktur und für ein modernes Bildungssystem. Wie man das mit Steuersenkungen, die Union und FDP versprechen, schaffen will, ist mir ein Rätsel. Im Übrigen haben Union und FDP in den vergangenen vier Jahren – den besten der Republik – Schulden in Höhe von 110 Milliarden Euro gemacht.

Bei dem Wähler kommt aber vor allem an, dass die SPD ihm in die Tasche greifen will.

Gabriel: Bei uns müssen die ersten acht Cent mehr Steuern gezahlt werden, wenn jemand 6250 Euro im Monat verdient. Das Durchschnittseinkommen in Deutschland liegt bei 2700 Euro. 95 Prozent der Bevölkerung ist von unseren Vorschlägen gar nicht betroffen.

Warum verfängt Ihr Wahlprogramm, in dem Sie reichlich soziale Wohltaten versprochen, bislang nicht beim Wähler?

Gabriel: Viele Menschen trauen der Politik grundsätzlich nicht mehr. Die SPD kämpft daher nicht so sehr gegen Angela Merkel, sondern vor allem gegen den Eindruck vieler Bürger, dass die Beteiligung an einer Bundestagswahl ohnehin nichts bringe, dass in letzter Instanz das Geld die Welt regiert.

Haben Union und FDP dieses Problem nicht auch?

Gabriel: Viele konservative Wähler denken sicher genauso, gehen aber trotzdem wählen. Unsere Leute bleiben eher daheim. Immer wenn die Wahlbeteiligung sinkt, verlieren wir überdurchschnittlich viele Wähler.

Es geht uns wirtschaftlich sehr gut. Wäre es daher nicht sinnvoll, ähnlich Kanzlerin Angela Merkel einen Wohlfühlwahlkampf zu machen?

Gabriel: Gott sei Dank geht es uns besser als vielen anderen. Ich behaupte: Da hat die SPD mindestens ebenso großen Anteil wie die CDU. Aber genauso wichtig ist doch die Frage: Welche neuen Herausforderungen kommen auf uns zu? Die Energiewende ist das vielleicht dringendste Problem. Der Fachkräftemangel. Und auch die Infrastruktur, die in Deutschland auf Verschleiß gefahren wird, muss erneuert werden. Das alles kostet mehr Geld. Und trotzdem müssen wir Schulden abbauen. Die SPD will sich diesen Herausforderungen stellen. Union und FDP ducken sich weg und tun so, als bleibe alles automatisch gut, wenn nur CDU und FDP weiter regieren. Ich sage voraus: Wer deren Politik fortsetzt, wird ein dickes Ende erleben.

Sie versprechen die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 die Stunde. Wird das nicht viele Arbeitsplätze vernichten?

Gabriel: Im Gegenteil! Wir vernichten Arbeitsplätze dadurch, dass wir keinen Mindestlohn einführen. Diejenigen Unternehmen, die ihre Arbeitnehmer fair bezahlen, haben kaum eine Chance gegen jene, die Löhne drücken und ihre Mitarbeiter anschließend zum Sozialamt schicken. Was aber hat das mit Marktwirtschaft zu tun, wenn der Staat jährlich Milliarden ausgeben muss, um Menschen zu helfen, die von ihrer Hände Arbeit nicht leben können.

Minijobs und Leiharbeit sind Erfindungen der Hartz-Reformen, die SPD und Grüne umgesetzt haben.

Gabriel: Die Einführung eines Mindestlohnes wäre schon zu Schröders Regierungszeiten richtig gewesen. Wir konnten das damals nicht umsetzen, weil auch die Gewerkschaften dagegen waren. Sie wollten nicht, dass der Staat in die Tarifautonomie eingreift. Das hat sich Gott sei Dank geändert.

Allerdings sind die Hartz-Reformen der Grund dafür, dass Deutschland heute wirtschaftlich sehr gut da steht.

Gabriel: Damals waren in Deutschland rund fünf Millionen Menschen arbeitslos. Die Einführung von Leih- und Zeitarbeit sollte helfen, diese Zahl und die Zahl der Überstunden zu senken. Daraus ist allerdings eine Vernichtung von festen Arbeitsplätzen geworden. Die Hälfte aller neuen Jobs wird nur noch befristet vergeben. Wir wollen Leih- und Zeitarbeit nicht verbieten. Aber wir wollen diese Fehlentwicklung, die zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht, korrigieren.

Muss es für die Energiewende ein eigenes Ministerium geben?

Gabriel: Auf alle Fälle muss die Zuständigkeit für die Energiewende in einem Bundesministerium gebündelt werden. Das muss kein spezielles Energieministerium sein. Aber so wie jetzt, dass sechs Minister sich streiten, das geht nicht, kann zu einer echten Deindustrialisierung in Deutschland führen.

Hat es Sie überrascht, dass eine konservative Regierung den Ausstieg aus der Atomenergie beschloss?

Gabriel: Das war sicher überraschend. Aber entscheidend ist, dass Union und FDP in den vergangenen Jahren nichts von dem umgesetzt haben, was ihre eigene Expertenkommission zur Energiewende aufgeschrieben hat. Angela Merkel ist eine sympathische Anscheinserweckerin. Sie tut immer so, als ob sie etwas tun möchte. Ein schönes Beispiel war die Mietpreisbremse: Die hat sie versprochen, um dann genau drei Wochen im Bundestag dagegenzustimmen. Öffentlich erklärte sie, sie sei gegen eine Schuldenunion in Europa. Hinten herum aber akzeptiert sie diese. Und jetzt will sie deutsche Steuerzahler dauerhaft für marode Banken in Europa haften lassen. Das verstößt klar gegen einen Beschluss des Bundestages, den SPD, Grüne, Union und FDP gemeinsam gefasst haben.

Wird Syrien noch ein Wahlkampfthema?

Gabriel: Ich befürchte, dass es zu einem Militärschlag kommt. Und das ist aus meiner Sicht keine Lösung, denn danach geht das Morden in Syrien ja weiter. Die meisten Deutschen wollen nicht in eine militärische Auseinandersetzung im Nahen Osten hineingezogen werden. Auch indirekt nicht. Ich kann nicht ausschließen, dass das bei der Wahlentscheidung eine Rolle spielt.

Muss Syriens Machthaber Baschar al-Assad nicht in die Schranken gewiesen werden?

Gabriel: Ja, aber was heißt eigentlich „in die Schranken gewiesen“? Wenn jetzt die USA und Frankreich drei Tage Damaskus bombardieren, leidet doch nicht Baschar al-Assad. Das Ganze ist doch als eine Art „Strafaktion“ gedacht, aber wer wird mit dem Bombardement eigentlich bestraft? Vermutlich vor allem Unschuldige. Assad ist ein Verbrecher, und zwar egal ob seine Militärs das Giftgas eingesetzt haben oder nicht. Er gehört vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Der Weg dorthin geht aber nicht über dreitägige Bombardements, sondern nur über einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Und dafür muss Russland gewonnen werden.

Was ist, wenn es Beweise dafür gibt, dass Syriens Regierung hinter den Giftgaseinsätzen steckt?

Gabriel: Bislang sind dafür noch keine Beweise veröffentlich worden, obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass es das Assad-Regime war. Aber auch ohne eine endgültige Klärung muss ein Waffenstillstand her.

Ihre Partei lehnt ein militärisches Eingreifen grundsätzlich ab. Hoffen Sie so, die Wahl zu gewinnen?

Gabriel: Wir machen keinen Wahlkampf, sondern verantwortliche Außenpolitik. Mir wäre es lieber, CDU und FDP hätten vor einer Woche nicht einem Militärschlag das Wort geredet und sich stattdessen um Gespräche mit Moskau und den USA bemüht. Dann würden wir die Regierung auch mitten im Wahlkampf loben. Guido Westerwelle glänzt doch bislang nur mit markigen Sprüchen und ansonsten mit Untätigkeit. Und Angela Merkel hat bislang nicht mal einen Gesprächstermin auf dem G20 Gipfel mit Putin.