Bundesweit Proteste gegen ausufernde Überwachung durch Nachrichtendienste. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) attackiert

Hamburg/Berlin. Burkhardt Müller-Sönksen steht gerade sechs Minuten auf dem zur Bühne umfunktionierten Lastwagen. Der FDP-Bundestagsabgeordnete will sich auf der Demonstration des Hamburger Bündnisses gegen Überwachung zum Datenskandal äußern, den vor wenigen Wochen NSA-Agent Edward Snowden aufgedeckt hatte. Eigentlich stimmt er mit vielem überein, was auf den Transparenten und Plakaten der Demonstranten vor dem Karstadt-Gebäude an der Mönckebergstraße steht: Er stellt sich gegen das massenweise Ausspähen und skrupellose Datensammeln durch US-Geheimdienste. Doch große Teile der Rede des Politikers gehen in Pfiffen unter – offenbar eine Abrechnung mit der Haltung der FDP innerhalb der schwarz-gelben Bundesregierung zur NSA-Affäre. Es seien vielleicht 15 oder 20 Störer gewesen, sagt Müller-Sönksen, die hätten ihn niedergeschrien und ihm den „Stinkefinger“ gezeigt. Er nennt sie „Typ schwarzer Block“.

Plötzlich klettert ein junger Mann mit Schirmmütze und Sonnenbrille auf die Bühne, umklammert Müller-Sönksens Beine und versucht ihn, von dem Podium zu zerren. „Er hat so was wie ‚Aufhören! Aufhören!‘ geschrien, dann hat er mich zu Fall gebracht, ich bin mit dem Knie gegen einen Lautsprecher und mit dem Rücken gegen einen Verstärker geprallt“, sagt Müller-Sönksen am Tag nach der Demonstration. Um ihn abzuwehren, schlägt der 53-Jährige ein paar Mal mit seinem Mikrofon nach ihm. Schließlich stoppen Ordner den Täter und drücken ihn abseits der Bühne zu Boden. Nach ein paar Sekunden ist der Spuk vorbei. Etliche Demonstranten reagieren sofort mit „Keine, keine Gewalt“-Sprechchören.

Auch Andreas Gerhold von der Piratenpartei springt dem Politiker bei. „Was nicht geht, ist, hier zu versuchen, jemanden mit Gewalt vom Wagen und vom Mikro zu zerren“, sagt er. Und erhält dafür viel Applaus. „Müller-Sönksen war geschockt und überrascht“, sagte Bündnissprecher Jan Girlich, der sich nach der Demonstration von der Aktion distanzierte. Der Chaos Computer Club verurteile Gewalt und rufe zu friedlichem Protest auf.

Der Mitschnitt des Angriffs auf Müller-Sönksen ist im Internet zu sehen. Es dient der Polizei als Beweismittel zur Identifizierung des Täters, der danach von den Veranstaltern von der Demonstration ausgeschlossen wurde. Bisher ist nicht geklärt, aus welcher politischen Gruppe der Angreifer kommt oder ob er überhaupt einer Partei des großen Bündnisses angehört. Müller-Sönksen wisse noch nicht, ob er Anzeige erstatten werde, sagte er dem Hamburger Abendblatt. Für die Regierung fand er auch noch inhaltliche Worte: „Wir fordern Transparenz in der Affäre und kritisieren Innenminister und Kanzlerin dafür, den USA nicht deutlicher zu machen, dass das Ausspähen von Bürgern und Bündnispartnern nicht geht.“

Außer dem Zwischenfall auf der Bühne verlief die Demonstration friedlich. Laut Polizei sollen sich rund 2000 Menschen dem Protestzug des Hamburger Bündnisses gegen Überwachung angeschlossen haben, dem unter anderem auch der Chaos Computer Club angehört. Der Veranstalter sprach von 3000 bis 4000 Demonstranten.

Der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Johannes Caspar, schickte den Demonstranten in der Innenstadt Grußworte, die verlesen wurden. „Es darf niemals eintreten, dass wir uns an all das gewöhnen“, so Caspar. „Wir werden sonst Schritt für Schritt zu digitalen Untertanen, die sich im Namen der Sicherheit anlasslos ausforschen lassen.“

Die Demonstranten wendeten sich in Hamburg zudem gegen die sogenannten „Gefahrengebiete“ in einigen Stadtteilen, innerhalb derer anlasslos und verdachtsunabhängig Personen kontrolliert und Aufenthaltsverbote ausgesprochen werden können. Die Veranstaltung in Hamburg war Teil eines deutschlandweiten Aktionstages, den das Bündnis Demonstrare in 39 Städten ausgerufen hatte. Die Demonstrationen bei hohen Sommertemperaturen fielen aber zum Teil kleiner aus als von den Veranstaltern erhofft.

Die SPD griff Kanzlerin Merkel derweil erneut scharf an und forderte von ihr mehr Engagement, um die Ausspähung zu stoppen. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) will vor dem Hintergrund des Spähskandals einen Beauftragten für „Cyber-Außenpolitik“ einsetzen. Schon vor Wochen war ans Licht gekommen, dass der US-Geheimdienst NSA wohl im großen Stil die Kommunikation von Bürgern in Deutschland auskundschaftet. Details und Umfang sind aber weiter unklar. Die Bundesregierung von Union und FDP bemüht sich bislang mit begrenztem Erfolg, nähere Informationen zur Datenspionage aus den USA zu bekommen.