1,4 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Alzheimer oder einer verwandten Erkrankung. Die Mehrzahl wird von Verwandten gepflegt. So wie Ulrike. Ihr Mann Axel wusste, dass er sie an die Krankheit verlieren würde, als sie heirateten.

Axel kündigt seiner Frau das Mittagessen an, er spricht von der Sonne, die morgen sicher wieder scheinen wird, davon, dass er sie morgen mit dem Rollstuhl nach draußen schieben wird. Während er spricht, streichelt er Kreise auf ihre Hand. Aus dem Radio erklingt klassische Musik. Der Geruch von gekochtem Gemüse und gebratenen Würstchen dringt aus der Küche ins Wohnzimmer. Ulrike, seine Frau, antwortet nicht. Sie sitzt auf einem Sessel unter einer Decke, ein Kissen in ihrem Nacken. Sie starrt geradeaus, als blicke sie durch ihren Mann hindurch. Die 64-Jährige ist demenzkrank. Sie leidet an Alzheimer – unter der Krankheit, die die Gehirnzellen zerstört und das Leben rückwärts laufen lässt.

Sie ist eine von nach neuesten Schätzungen 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, die an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz erkrankt sind. Besonders auf dem Land steigt der Anteil der Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung. Eine Folge des stark steigenden Altersdurchschnitts vor allem in den ländlichen Regionen.

Meistens pflegen Angehörige die Demenzkranken. Axel, der seinen Nachnamen und den seiner Frau nicht in der Zeitung lesen möchte, ist einer von ihnen. Wie schafft es ein Ehemann, seine Frau zu Hause zu pflegen, hinzunehmen, dass die Beziehung nicht mehr die gleiche ist? „Mir ist bekannt, dass das Leben auf Erden endlich ist“, sagt Axel und lächelt. Er sagt, er gehöre zu den Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben. Axel sitzt in seinem kleinen Büro, die grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, umrahmt von Schreibtisch und Bücherregal. Hierhin ist er extra gegangen und hat die Tür geschlossen, damit seine Frau solche Fragen nicht hört. Man wisse nie, was sie mitbekomme, sagt er.

Er hat gelernt zu akzeptieren, dass seine Frau „immer weniger wird“, wie er es formuliert. Vor elf Jahren, als er sie kennenlernte, war Ulrike ein fröhlicher Mensch, der Naturlandschaften malte, Musik von Bach und Händel liebte und in Chören, unter anderem im Hamburger Chor St. Michaelis, sang. Eine Aufnahme aus dem Jahr 2006 zeigt Ulrike in ihrem Kirchenchor St. Paulus mit rotblondem Haar, geröteten Wangen und einem breiten Lachen. Heute sind ihre Wangen eingefallen und blass, die Haare glanzlos. Ihre Augen blicken meistens geradeaus, als würden sie kein Rechts und Links mehr kennen.

2004 bestand Klarheit: Diagnose Demenz vom Typ Alzheimer

Die Vergesslichkeit war von Anfang an ein Begleiter in der Beziehung zwischen dem 78-Jährigen und seiner 14 Jahre jüngeren zweiten Ehefrau aus Buchholz in der Nordheide. Es kam vor, dass Ulrike in einer Stunde dreimal dieselbe Frage stellte. Manchmal bemerkte sie nicht einmal, dass sie das Brötchen senkrecht hielt, sodass der Honig hinuntertropfte. Irgendwann konnte Ulrike den CD-Player nicht mehr bedienen. Ihre Tochter, mit der sie in einem Reihenhaus lebte, musste die Geräte für sie einschalten. Ulrike erklärte sich und anderen damals mit einer endogenen Depression, die seit Jahren medikamentös behandelt wurde, was aber keine Besserung brachte. Im Gegenteil: Ulrike kroch am Ende auf allen vieren die Treppe hoch und konnte im eigenen Haus die Toilette nicht mehr finden. „Das war schrecklich“, sagt Axel.

Darauf folgte 2004 eine zweimonatige Beobachtung in der Tagesklinik Ochsenzoll, die die Gewissheit brachte: Diagnose Demenz, Typ Alzheimer. Die Tabletten, die der Arzt verschrieb, schlugen an. Dadurch konnte der Fortschritt der Krankheit zunächst gestoppt werden.

Das war die Zeit, die Ulrike und Axel besonders intensiv nutzten. Sie heirateten 2005, zogen im selben Jahr zusammen und gingen auf Hochzeitsreise nach Rom. Sie reisten nach Australien, in die Türkei, nach Italien und Spanien. Axel musste seiner Frau nur das Brot in kleine Schnittchen schneiden. In dieser Zeit fing Ulrike auch an, zwei- bis dreimal pro Woche eine Tagesbetreuung im 15 Kilometer entfernten Tostedt zu besuchen, in der sie gemeinsam mit anderen Demenzkranken bastelte und sich rhythmisch bewegte. Drei Jahre lang ging es gut. Dann begann der Verfall – der „Gleitflug“, wie Axel es ausdrückt.

Ulrike sollte die Tagespflegegruppe verlassen, weil sie störte

Er setzte 2008 mit einer Operation ein, der sich Axel unterziehen musste. Weil danach zwei Monate Reha folgten, war er gezwungen, seine Frau in eine Vollzeitpflege zu geben. In dieser Zeit konnte Ulrike sich nicht mehr ohne Hilfe anziehen und waschen. Als er sie wieder nach Hause nahm, merkte er, dass er die Pflege allein nicht mehr bewältigen konnte. Er holte sich über die Diakonie eine Helferin, die Ulrike morgens beim Duschen festhielt und ihr beim Anziehen half. Zugleich wurde Axel nahegelegt, Ulrike aus der Tagespflegegruppe in Tostedt herauszunehmen. Sie machte nicht mehr bei den Gruppenaktivitäten mit und störte mit unpassenden Worten. Nun musste die Entscheidung fallen: ins Heim oder weiterhin Pflege im eigenen Haus. Axel beschloss, sich zu Hause um seine Frau zu kümmern.

Seitdem gehört er einer Minderheit an. Nur 27 Prozent der Menschen, die einen nahen Angehörigen daheim pflegen, sind Männer, so der Demenz-Report 2011. Axel ist kein Mensch, der jammert. Er hat sich nie gefragt, warum ausgerechnet ihn dieses Schicksal trifft, nachdem er seine erste krebskranke Frau 13 Monate lang bis in den Tod begleitet hatte. Er nimmt die Krankheit seiner Frau Ulrike wie das Wetter. Das lässt sich auch nicht ändern.

Und er erkannte rechtzeitig, dass er die Last der Betreuung nur tragen kann, wenn er sie auf mehrere Schultern verteilt. „Sonst macht man sich kaputt“, sagt er. Er bekommt regelmäßig Unterstützung von der Familie, von Freunden, von Nachbarn. „Von lieben Menschen von nah und fern“, sagt Axel. „Auch die Ärzte, Physiotherapeuten und – last not least – die Diakonie hat mich unterstützt.“

Heute Morgen hilft ihm Teresa, die für einige Wochen bei ihnen wohnt. Während Axel in seinem kleinen Büro Telefonanrufe erledigt, streicht Teresa mit einem Massagegerät über Ulrikes Arme und Beine. Als Teresa Ulrikes Hände knetet, zucken sie. Ihre Augen werden ganz groß während der Massage. Sie öffnet und schließt immer wieder den Mund. Manchmal schmatzt sie dabei. „Schön locker“, sagt Teresa. Doch Ulrike ist nicht locker. Ihren linken Arm hat sie angewinkelt und fest an ihren Körper gedrückt. Die linke Hand ist zur Faust geballt. Teresa macht unbeirrt weiter, nimmt beide Arme in die Hände, schwingt sie von links nach rechts, zieht Ulrike an den Armen nach vorn, bis sie sich mit dem Kopf an ihre Brust lehnt. Teresa macht weiter, auch wenn die linke Hand zittert, Ulrike leicht stöhnt und ihr der Speichel aus dem Mund läuft. „Schöne Gymnastik“, sagt Axel, als er aus seinem Büro zurückkommt. Er streicht mit dem Handrücken über Ulrikes Wange. Für den Körper, der jetzt bewegt werden muss, war es noch früher ein Leichtes, regelmäßig durch die Lüneburger Heide zu wandern. Als das Wandern nicht mehr ging, gingen Axel und Ulrike spazieren. 2008 konnten die beiden noch 500 Meter zusammen gehen, später nur noch 50 Meter. Damit Ulrike die Treppe in den ersten Stock schaffte, sang er ihr nach jeder Stufe ein Lied. Heute nutzt sie die Treppe schon lange nicht mehr. Ein speziell eingebauter Lift bringt sie in den ersten Stock.

Mit Hilfe schafft Ulrike die wenigen Meter vom Sessel zum Toilettenstuhl

Die Krankheit hat dazu geführt, dass Ulrike nur noch drei bis fünf Meter im Haus gehen kann. Vom Sessel zum Toilettenstuhl. „Aber immerhin“, sagt Axel, dreht sich zu seiner Frau und sagt: „So, Ulrike, jetzt gehen wir spazieren.“ Er stellt sich hinter seine Frau, Teresa vor sie. Nachdem sie Ulrike gemeinsam aus dem Sessel gehievt haben, geht’s los. Axel schiebt Ulrikes Beine einzeln nach vorn, während Teresa Ulrike an den Händen zieht. „Eins, zwei, drei, vier, super!“, sagt Axel. „Gut geht das heute.“ Schließlich zieht er ihr die Windel aus und setzt sie auf den Toilettenstuhl. „Aaaah“, stöhnt Ulrike, als ihr Gesäß auf das kalte Metall drückt. „Kalt, ne?!“, sagt Axel. „Aber keine Sorge, der wird wieder warm.“ Zeit fürs Essen. Axel zündet eine Kerze an und schenkt ihr Fruchtsaft ins Glas. „Du musst viel trinken, hat der Arzt gesagt“, sagt Axel. Teresa füttert sie mit püriertem Gemüse. Ulrike kaut mechanisch und verzieht dabei ihr Gesicht. Doch dass sie gut isst und trinkt, ist wichtig, damit es weitergeht.

Als die Hand zuckt und Ulrike die Stirn runzelt, fragt Axel: „Na, was ist, Ulrike? Alles gut?“ Keine Antwort. Wenn es gut läuft, sagt Ulrike drei Ausdrücke am Tag: „Ja“, „Axel“, „Komm mal her.“ Und so versucht Axel die meiste Zeit zu deuten und zu verstehen, was seine Frau will, hat am Ende aber doch nie Gewissheit. „Wenn ich ihr sage, dass ich sie lieb habe, kommt es vor, dass sie weint. Ich denke, das ist Rührung, aber ich weiß es nicht“, sagt er.

Zärtlichkeiten und Gesprächsversuche enden immer in einer Einbahnstraße. Im Demenzreport 2011 heißt es auch, gerade für Ehegatten sei es schwer zu ertragen, dass die Demenz die vertraute Persönlichkeit zerstört. Doch Axel arbeitet sich nicht an seinem Schicksal ab, er nimmt es hin, obwohl der körperliche und geistige Zerfall seiner Frau allgegenwärtig ist.

Nachdem Ulrike wieder in ihrem Sessel sitzt, legt Axel die Musik vom Gospelchor Buchholz auf. In ihm sang Ulrike früher selbst. Er setzt sich neben sie und streichelt ihren Arm. Es kann vorkommen, dass Axel sie eine halbe Stunde lang streichelt, bis die Zuckungen vorüber sind. Auch jetzt scheint Ulrike es zu genießen. „Haaah, haaah“, macht sie. „I am gonna let it shine“ tönt es aus dem CD-Player, und Axel bewegt Ulrikes Hand im Takt. Dann drückt sie seine Hand. „Oh“, wundert sich Axel. „Jetzt hältst du mich ganz fest, oh.“

Bis heute hat er es nicht bereut, seine Frau zu sich nach Hause geholt zu haben. „Ich freue mich, dass ich für meine liebe Ulrike da sein kann. Es waren ausgesprochen schöne Jahre“, sagt er. „Selbst heute bin ich nicht unglücklich.“ Abends singt er ihr Schlaflieder vor: „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Dat du min Leevsten büst“. So wie eine Mutter ihr Kind in den Schlaf singt. Auch das bringt diese Krankheit mit sich: Dass sich ein Erwachsener wieder zum Kleinkind entwickelt. Aus der Liebe von Mann und Frau wird so etwas wie eine Liebe von der Mutter zum Kind.