Bis 2020 werden möglicherweise nicht mal halb so viele Anlagen in der Nordsee gebaut wie von der Bundesregierung geplant. Schwierigkeiten bei der Windenergie auf dem Meer für Norden ein herber Rückschlag.

Berlin. Die Vision war so schön. Riesige Windmühlen erzeugen draußen in der Nordsee verlässlich Strom. Windparks mit einer Leistung von 10.000 Megawatt (MW) sorgen bis 2020 dafür, dass der Atomausstieg nicht zum klimapolitischen Nullsummenspiel wird. Denn wird es nichts mit der Vision, könnten besonders Kohlekraftwerke das Abschalten der Atommeiler auffangen. Der Grund: Gaskraftwerke rechnen sich kaum; Sonne und Wind an Land liefern zu unbeständig Strom. Der Kohlestromanteil stieg daher 2012 schon auf 44,8 Prozent.

Die Realität ist aber trübe, gerade mal Turbinen mit 320 Megawatt liefern in Nord- und Ostsee Strom. Zum Vergleich: Ein Atomkraftwerk hat 1400 Megawatt Leistung. Viele Windparks sind zwar genehmigt. Aber alle Investitionsentscheidungen liegen auf Eis. Bis zur Bundestagswahl hat sich die schwarz-gelbe Bundesregierung eine Art Schweigegelübde in Sachen Offshore-Windenergie auferlegt. Aber ein wichtiger Regierungsbeamter macht keinen Hehl daraus, dass es einen Abschied vom hehren 10.000-Megawatt-Ziel geben wird. Nach der Wahl. Maximal 6000 Megawatt seien wegen der Investitionszurückhaltung noch machbar. Und selbst das könnte zu optimistisch sein, wie eine im Mai an den für die Nordsee zuständigen Netzbetreiber Tennet übergebene Studie nahelegt.

Der Projektbericht mit dem Titel „Umsetzungsstatus von Offshore-Windpark-Projekten (OWP) in der Deutschen Nordsee“ des hierauf spezialisierten Beraters Michael Erler spricht Klartext. Nur für 2900 Megawatt gebe es derzeit überhaupt eine Finanzierung, davon seien bisher 2300 Megawatt in der Errichtung. Da in der Bauphase teilweise „erhebliche technische Schwierigkeiten“ aufgetreten seien, würden Investoren vor dem Einstieg in neue Projekte zurückschrecken. Hinzu kommen höhere Wartungskosten als erwartet und Munitionsfunde.

Selbst bis 2023 rechnet Erler nur mit zwischen 3700 (konservatives Szenario) bis maximal 5900 Megawatt (optimistisches Szenario). Die Bundesregierung hält bisher offiziell an 10.000 Megawatt bis 2020 und 25.000 MW bis 2030 fest. Für die Unternehmen an der Küste, die sich auf den Offshore-Bereich spezialisiert haben, könnte es ein böses Erwachen mit einer Bedrohung Tausender Arbeitsplätze geben. Einige sind schon insolvent, es läuft die Zeit davon. Und die großen Energieunternehmen wie RWE und E.on haben sich von Investitionen in die Windkraft auf dem Meer zurückgezogen.

Gerade für den Norden Deutschlands sind die Schwierigkeiten bei der Windenergie auf dem Meer ein herber Rückschlag. Die klassische Industrie kämpft mit einer schwachen Auftragslage, die Containerschifffahrt musste im vergangenen Jahr einen Rücklauf bei den Umschlagszahlen hinnehmen. Die Hamburger Sietas Werft meldete Insolvenz an. Für viele war die mit der Energiewende eng verbundene Windkraft auf See auch ein wichtiger Standortfaktor im Norden. Vor dem Ausstieg aus der Atomkraft war der Süden Motor bei der Energiegewinnung in Deutschland. Vor allem die Küstenregionen im Norden wollen nun von der Energiewende profitieren. Doch die Hoffnungen auf einen Boom mit der Windkraft auf dem Wasser werden nun enttäuscht.

Aber auch die Verbraucher könnte das Ganze noch einiges kosten. Tennet-Chef Lex Hartman musste bisher als Prügelknabe für das verspätete Anschließen von Offshore-Anlagen herhalten – die Branche nennt das als Grund dafür, warum sich bisher so wenige Windräder drehen. Dann kam eine Haftungsregelung, Risiken für Netzprobleme wurden abgewälzt. Nun sollen Betreiber von Netzen wie Tennet für Verluste der Hersteller und Betreiber von Windkraftanlangen aufkommen, sofern diesen aufgrund fehlender Netze Einnahmen verloren gehen. Netzbetreiber wie Tennet können die dabei entstehenden Kosten wiederum an die Verbraucher weitergeben. Seit Anfang des Jahres gibt es eine umstrittene Offshore-Umlage, die einen Drei-Personen-Haushalt bei den Stromkosten jährlich rund neun Euro kostet.

Der frühere Hamburger Umweltsenator Jörg Kuhbier hält die Ziele für verfehlt

Nun haben sich hier manche Bauten beschleunigt. Aber: Anschlüsse und Seekabel könnten nun bereitstehen, die Windturbinen aber nicht. „Bereits zeitnah geplante Beauftragungen weiterer Netzanbindungen könnten hohe Leerkosten verursachen, die über die Netzentgelte vom Verbraucher getragen werden müssten“, heißt es in dem Bericht. Tennet schaffe nun Abtransportkapazitäten für 6200 Megawatt – womöglich zu viel. Gerade wenn Windparks mangels Geld viel kleiner ausfallen. Es drohen Kosten für nicht genutzte Leitungen, die die Bürger über den Strompreis zahlen müssen. Wenn etwa die Parks BorWin 3 und 4 nicht mit der geplanten Kapazität von jeweils 900 Megawatt gebaut werden, drohten Leerkosten von 800 Millionen Euro pro Jahr, ohne DolWin4 könnten sie sich bis 2021 auf rund eine Milliarde Euro erhöhen, heißt es. So würde dies nicht nur für die Küste und die Investoren ein schlechtes Geschäft. Neidvoll wird nach Großbritannien geblickt, wo an der Küste gebaut werden darf. In der Themsemündung wurde gerade der weltgrößte Offshore-Windpark London Array mit 630 Megawatt eingeweiht.

„Wir fordern realistische Ziele, damit wir nicht ineffizient Leitungen auf Kosten der Konsumenten bauen“, sagt Tennet-Chef Hartman. Andreas Wagner, Geschäftsführer der Stiftung Offshore-Windenergie, räumt ein, dass die Ausbauziele bis 2020 nicht mehr erreichbar seien. „Durch die Diskussion um die Strompreisbremse sind die Branche und potenzielle Investoren massiv verunsichert worden.“ Es gehe um Investments von einer bis 1,5 Milliarden Euro pro Park.

Bereits in den vergangenen Wochen hatten sich Experten und Vertreter der Windkraft skeptisch gegenüber den bisherigen Ausbauplänen für die Windkraft auf See geäußert. Das Ziel für 2020 sei nicht mehr erreichbar, sagte Jörg Kuhbier, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Offshore-Windenergie und früherer SPD-Umweltsenator in Hamburg der Wochenzeitung „Die Zeit“. Was tun, um die Situation zu retten? Wagner fordert eine rasche gesetzliche Regelung. Nur bis 2017 gilt das sogenannte Stauchungsmodell, bei dem für acht Jahre 19 Cent pro Kilowattstunde gezahlt werden. Zum Vergleich: Für Solaranlagen gibt es nur noch 15 Cent bei viel geringerer Stromproduktion. Wenn das Modell mit der hohen 19-Cent-Anfangsvergütung verlängert würde, um mehr Investoren anzulocken, könnte die Vision wieder realer werden. Aber die andere Seite dürften neue Strompreiserhöhungen sein. Der Energieexperte Holger Krawinkel von der Verbraucherzentrale Bundesverband sieht das daher als „ökonomischen und technologischen Irrläufer“.