CDU und CSU tun in Berlin so, als diskutierten sie ihr Wahlprogramm – das am Vortag bereits beschlossen wurde

Berlin. Doch, doch, es wird diskutiert auf dem „gemeinsamen Kongress von CDU und CSU“ über das „Regierungsprogramm für Deutschland 2013– 2017“. Kontrovers sogar. Beinahe entzündet sich ein Streit – aber nur an der Frage, ob der Ort gut gewählt ist: die Opernwerkstätten in Berlin-Mitte. „Industrial chic“, jubelt Axel Wallrabenstein, Chairman einer PR-Agentur, und erklärt die Union über Twitter gleich zur „#hipsterpartei“. Andere wundern sich über die schlecht gelüftete Halle, die von Stahlträgern dominiert wird, von denen die abgeplatzte Farbe bröckchenweise ins Publikum rieselt. „Gut, dass wir wenigstens den Palast der Republik schon abgerissen haben, sonst müssten wir uns nächstes Mal dort treffen“, witzelt ein Rheinländer, der schon leidvolle Erfahrung mit angesagten Berliner Veranstaltungsorten – Pardon: „locations“ – gemacht hat.

Dabei passt die (Probe-)Bühne zur Inszenierung: „Werkstätten des Staatstheaters“ steht über dem Eingang, und das trifft es perfekt. Denn an diesem Montag führen CDU und CSU ein Theaterstück auf. Der Saal ist mit Parteilogos geschmückt, es gibt Reden beider Vorsitzenden, es gibt Applaus, dessen Länge mit Stoppuhren gemessen wird, es gibt ein Programm, und am Ende singen alle gemeinsam die Nationalhymne – wie auf einem Parteitag. Nur beschlossen werden kann nichts. Das ist schon am Vortag geschehen. Da haben die Vorstände beider Parteien in der „Humboldt-Box“ (noch so eine „location“) ohne Gegenstimme oder Enthaltung das 127-seitige gemeinsame Wahlprogramm beschlossen, das sie „Regierungsprogramm“ nennen.

„Liebe Teilnehmer, dies ist eine Werkstatt, in der wir noch einmal diskutieren, was wir gestern in den Vorständen beschlossen haben“, sagt Angela Merkel später tatsächlich, als funktionierte Demokratie nicht genau andersherum. Und nicht einmal das stimmt: In diesen knapp vier Stunden gibt es keine Diskussion. Sondern, neben Merkel und Seehofer, noch Filmchen mit Ministerstatements und Interviews, bei denen die Fragen von zwei CDU-Moderatoren gestellt werden. Das Publikum besteht nicht aus Delegierten, sondern aus 700 „Mandats- und Funktionsträgern“. Wer hier klatscht, ist mindestens Kreisvorsitzender. Die meisten aber arbeiten beruflich sowieso im Berliner Regierungsviertel oder sind als Abgeordneter zur letzten Sitzungswoche des Bundestages angereist.

Dem CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe könnte dämmern, dass er mit dieser Veranstaltung einen neuen Meilenstein bei der Selbstabschaffung der Parteiendemokratie gesetzt hat. Jedenfalls mahnt er: „Wir sind nicht nur Sender, sondern auch Empfänger politischer Botschaften.“ Und erzählt – in einem Talkshowformat – er habe sich in der CDU umgehört, „150 Änderungsanträge“ eingearbeitet und außerdem eine Mitmachaktion im Netz genutzt. Auch Merkel wird später sagen, sie habe „aus der Internetumfrage ein Gefühl bekommen, was die Leute bewegt“. Gröhes CSU-Konterpart Alexander Dobrindt hingegen hält sich gar nicht erst mit der Behauptung innerparteilicher Demokratie auf und reitet lieber Attacken gegen Rot-Grün: „Wir werden kein linkes Land, sondern bleiben eine bürgerliche Republik.“ Am Ende eines besonders kämpferischen Statements ruft er aus: „Die Wahrheit liegt in der Urne.“ Pause. Stille im Saal. Dann Dobrindt: „In diesem Fall in der Wahlurne.“

Sie gibt einen Einblick in die kleinen und großen Sorgen einer Kanzlerin

Dobrindts Chef, der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, bekräftigt die Priorität der Haushaltssanierung vor den Wahlversprechen. Die im Programm vorgesehenen Mehrausgaben verteidigt er nicht im Einzelnen – auch die teure Rentenerhöhung für ältere Mütter nicht –, sondern im Prinzip: „Investitionen in Ehe und Familie sind keine Umverteilung, sondern genauso Investitionen in die Zukunft wie Bildung und Forschung.“ Der Bayer rügt die innerparteilichen Kritiker des Programmes, die man „in den Nachrichten“ höre, aber nicht in den Gremiensitzungen. Die CSU-Forderungen wie Pkw-Maut, Volksabstimmungen und Regionalisierung einzelner Steuern spricht Seehofer nicht an – er hat sie ja auch nicht ins gemeinsame Programm bekommen. An den einstigen Anspruch der CSU, eine unabhängige Größe zu sein, erinnert nur noch das Demonstrative, mit dem sich ihr Vorsitzender Angela Merkel unterwirft: Wenn er ein bayerisches Bierzelt bei einer Rede langweile, lobe er, um Applaus zu bekommen, immer schnell die Kanzlerin, so Seehofer.

Die Gelobte selbst beschäftigt sich dann in ihrer Rede nur kursorisch mit dem Programm und dem bevorstehenden Wahlkampf. Sie gibt eher einen Einblick in die kleinen und großen Sorgen einer Kanzlerin: Die anstehende Digitalisierung bei VW, die Neudefinition von Wachstum jenseits materieller Zuwächse, die Euro-Krise. Und: „Ich zerbreche mir ganz viel den Kopf darüber: Was machen wir mit unseren Mehrgenerationenhäusern?“ Merkel schimpft ein bisschen heftiger auf SPD und Grüne und einmal sogar auf „Rot-Rot-Grün“. Aber wie immer bei ihr sind die Zwischentöne das Interessanteste, etwa wenn sie über Europa spricht: „Wenn ich sage, mehr Wettbewerbsfähigkeit, dann meine ich nicht, dass immer mehr Kompetenzen nach Brüssel gegeben werden müssen – aber wir müssen schon sehen, wohin wir wollen.“ Das zielt auf die ganz große offene programmatische Frage ihrer Partei: Soll die EU umgebaut werden in einen echten Bundesstaat (Ursula von der Leyen)? Soll die EU-Kommission mehr Macht bekommen und deren Präsident vielleicht direkt gewählt werden, wie es Wolfgang Schäuble vorschlug?

Oder sollen weiterhin die Regierungschefs in Nachtsitzungen und mit Verträgen über die Euro-Zone herrschen – wohin Merkel tendiert? Das ist eine wichtige Frage. Die CDU redet darüber. Aber nicht an diesem Tag.