Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger verlangt Aufklärung von Firmen wie Facebook. US-Geheimdienst fordert Auslieferung des Enthüllers Edward Snowden.

Washington. In einem Hotelzimmer in Hongkong verbirgt sich mutmaßlich ein junger Amerikaner vor dem mächtigsten Geheimdienst des Erdballs. Er stopft Kissen vor Türspalten und zieht einen roten Sack über sich und seinen Laptop, wenn er Passwörter eingibt. Seit dem Tag seiner Flucht aus Hawaii am 20. Mai hat er das Zimmer nur dreimal kurz verlassen: Edward Joseph Snowden wird als einer der größten Geheimnisverräter in die US-Geschichte eingehen.

Von einer globalen Gemeinde von Bürgerrechtlern, Datenschützern, libertären Geistern dürfte der 29-Jährige als der mutigste Kronzeuge gegen die Exzesse eines Überwachungsstaats gefeiert werden.

Snowden enthüllte über einen Reporter des „Guardian“ das US-Spähprogramm Prism, ein gigantisches Überwachungsnetz der Telekommunikation von US-Bürgern wie Ausländern. Ein ausgeliehener IT-Spezialist ohne abgeschlossenes Studium, der für das Technologieberatungsunternehmen Booz Allen Hamilton Jobs für den ultrageheimen Nachrichtendienst NSA und die CIA erledigte, behauptet nun, selbst sein Zugang und seine Kenntnisse hätten es ihm erlaubt, jedermann, „Sie, einen Bundesrichter, den US-Präsidenten selbst zu überwachen, wenn ich seine private E-Mail-Adresse hätte“.

Snowden kann nicht gewinnen. Die USA werden alles daran setzen, seine Auslieferung zu erzwingen. Snowden hat schon gewonnen, weil er in Freiheit seine Motive erläutern kann und eine Debatte angestiftet hat. Eine Diskussion, die der frühere Verfassungsrechtler Barack Obama nicht meinte, als er vor Tagen dazu aufforderte und zugleich empfahl, der Regierung zu vertrauen und ihr das Beste zu unterstellen.

Das Prism-Programm ist von Kongress und Gerichtsbarkeit abgesegnet. Ob es verfassungskonform ist, wurde vom Obersten Bundesgericht nicht überprüft. Snowden hat nicht wahllos „Top Secret“-Material verraten wie sein Bruder im Geiste, Bradley Manning, der im Irak 700.000 Geheimdokumente auf seinen Computer lud und sie über WikiLeaks in die Welt setzte. Soweit bisher bekannt – die US-Geheimdienste prüfen den angerichteten Schaden –, wird durch Snowdens Verrat niemand enttarnt oder gefährdet. Seine Enthüllungen hätten sich auf 41 Seiten einer „slide show“ beschränkt, die er vor Wochen der „Washington Post“ anbot, meldet das Blatt. Die Zeitung wollte mehrere Dias nicht veröffentlichen und sich nicht festlegen, wann sie Snowdens Bombe zur Explosion bringen würde. Deshalb erhielt der „Guardian“-Reporter Glenn Greenwald den Zuschlag.

Snowdens Pass könnte für ungültig erklärt werden

Greenwald hält sich „für eine Weile“ in Hongkong auf und muss nun selbst ein Spießrutenlaufen durch Pulks von Kollegen ertragen. Derweil wird die US-Regierung mit aller Macht bei Chinas Machthabern vorstellig. Sollte eine Auslieferung nicht direkt zustande kommen, so heißt es in Washington, könne das US-Außenministerium Edward Snowdens Pass für ungültig erklären und ihn als Staatenlosen den chinesischen Behörden ausliefern. Es sei üblich, dass Touristen ohne Pass, die folglich illegal im Land seien, in das Land abgeschoben würden, aus dem sie einreisten. In Freiheit, so viel ist gewiss und so viel weiß Snowden längst, wird dieser Mann nie mehr leben.

Amerikas berühmtester Geheimnisverräter Daniel Ellsberg applaudiert: „In diesem Moment gibt es keinen amerikanischen (ehemaligen) Staatsangestellten, den ich mehr bewundere. Es hat nie eine wichtigere Enthüllung für das amerikanische Volk gegeben, und da schließe ich die ,Pentagon Papers‘ ein. Snowden ist offensichtlich bereit, sein Leben und seine Freiheit zu geben, um die Interessen seines Landes zu schützen.“ Als Daniel Ellsberg 1971 Zehntausende Seiten Akten in wochenlanger Nachtarbeit fotokopierte, entlarvte er die Lügen der US-Regierung über Gefallenenzahlen und andere Operationen im Vietnamkrieg. Der Verrat Snowdens aber, so argumentieren empörte Regierungsbeamte heute, entblöße ein Spähprogramm, das demokratisch legitimiert sei und von (geheimen) Gerichten überprüft werde.

Im Kongress sind Republikaner und Demokraten einig, dass Verrat durch nichts zu rechtfertigen und mit aller Gesetzesstrenge zu bestrafen sei. Die Überwachung durch Prism habe in mehreren Fällen zur Vereitlung von Terroranschlägen beigetragen, heißt es. Details sind naturgemäß geheim.

Eine Ausnahme in Washington macht der libertäre US-Senator Rand Paul aus Kentucky. Paul verabscheut nichts mehr als staatliche Arroganz und Machtmissbrauch im Namen des Heimatschutzes. Er werde einen Prozess gegen die Bundesregierung anstrengen, ließ der Senator wissen, und er lade Millionen Amerikaner ein, ihm in einer Sammelklage zu helfen: „Ich werde alle Internet-Provider bitten und alle Telefongesellschaften und alle ihre Kunden bitten, sich zu beteiligen.“

EU-Kommission besorgt wegen US-Überwachung

Die EU-Kommission zeigte sich unterdessen besorgt über die massive Internet-Überwachung durch die USA und verlangt von Washington mehr Informationen. EU-Justizkommissarin Viviane Reding werde das Thema beim nächsten Ministertreffen zwischen der EU und den USA am Donnerstag und Freitag in Dublin ansprechen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will die umstrittene Datensammlung voraussichtlich kommende Woche bei ihrem Treffen mit US-Präsident Barack Obama zur Sprache bringen. Das kündigte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) im Bayerischen Rundfunk an.

Dabei übte sie deutliche Kritik am Vorgehen der US-Regierung, von dem auch Deutsche betroffen seien. Durch den Zugriff auf Rechner in den Vereinigten Staaten seien natürlich auch die Verbindungsdaten von Deutschen überwacht, kontrolliert und gespeichert worden, kritisierte Leutheusser-Schnarrenberger. Nun müsse geklärt werden, inwieweit die Internetfirmen, die auch in Deutschland Geschäfte betreiben, über die Protokollierung der Verbindungsdaten informiert gewesen seien, ohne dass sie ihre Kunden darüber in Kenntnis gesetzt hätten.